Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden
Teil 4
„Wer die Freiheit anderer achtet, zeigt allein dadurch mehr soziale Verantwortung als die Befürworter totalitärer Systeme, denen individuelle Freiheit nichts gilt.“ (Neschle)
Die dritte Erbsünde: Egoismus statt soziale Verantwortung
Die dritte Erbsünde wird den Liberalen am häufigsten angelastet. Dennoch steckt sie nicht in den liberalen Genen. Sie findet sich aber in der libertären Mutation des Liberalismus. Libertäre verbergen sich (zu) oft als „Bekenntnisliberale“ hinter dem liberalen Etikett. Den Liberalen ist vorzuwerfen, dass sie nicht deutlich genug und nicht öffentlichkeitswirksam gegen diesen Etikettenschwindel vorgehen.
So mancher Bekenntnisliberale glaubt, der Liberalismus lasse unbeschränkte Freiheit zu und völligen Egoismus des Einzelnen, ja fordere ihn sogar im Wirtschaftsliberalismus, ohne dass davon ein Schaden für die Gesellschaft ausgeht. Nach der Bienenfabel von Mandeville[1] werden durch den Zwang zu freiwilliger Einigung am Markt sogar private Laster zu öffentlichen Vorteilen. Auch der politische Abstimmungsprozess setzt den Individuen gesellschaftliche Schranken bei der Durchsetzung ihrer egoistischen Ziele.
Danach liegen die sozialen Bezüge nicht in der sozialen Verantwortung jedes Einzelnen, sondern in den sie umgebenden Systemen, wirtschaftlich im Markt und politisch in der Demokratie. Sie sind die Instrumente sozialer Verständigung und Einigung, die selbst aus individuellem Egoismus kollektive Tugenden machen.
Die soziale Natur dieser Systeme begrenze sowohl die persönliche Verantwortungslosigkeit als auch ökonomische Gier des Einzelnen, hemme sie in ihrer potentiell zerstörerischen Wirkung auf die Gesellschaft. Sie bringe die Individuen dazu, sich zum eigenen Vorteil friedlich mit anderen abzustimmen. Das verändere sogar die Natur der Gier des Einzelnen und bringe sie unter Marktbedingungen als sozial nützliches Leistungsstreben zur Geltung. Das charakterliche Manko des rücksichtslosen Egoisten erlaube ihm höchste Kreativität und leite ihn jedoch in soziale Bahnen durch den Widerstand, den ihm die anderen Teilnehmer am marktlichen und politischen Einigungsprozess entgegensetzen. Egoistische Gier wird sozialisiert und mutiert vom isolierten Vorteil des Einzelnen zum Vorteil aller.
Aus einer so begründeten Forderung nach uneingeschränkter Freiheit DES Einzelnen bei völliger moralischer Enthaltsamkeit, ohne jede persönliche gesellschaftliche Verpflichtung und ethische Verantwortung, leiten Bekenntnisliberale noch heute krasse Freiheitsvorstellungen ab wie die Folgende:
„Für Liberale gibt es keine universale Moral und keine ethischen Grundsätze, die es erlauben würden, eine solche Moral abzuleiten. Liberale gehen davon aus, dass der Mensch frei ist, autonom und selbstbestimmt. Er hat das Recht, sein Leben gegebenenfalls egoistisch, verantwortungslos und alles andere als nachhaltig zu führen. … Politik darf aus liberaler Sicht nicht den Versuch darstellen, einen Lebensstil durchzusetzen und sei er noch so umweltschonend, tolerant, multikulturell, kinderfreundlich und am Gemeinwohl orientiert.“[2]
Der private Waffenbesitz im Sinne der amerikanischen Waffenlobby wäre danach ebenso ein liberales Freiheitsrecht wie das Recht, sich selbst freiwillig in die Sklaverei zu begeben, ja sogar der Sex mit Kindern zu haben, was Politiker der Grünen als Freiheitsrecht für sich und andere noch in den 80er- und 90er-Jahren forderten.[3]
In Wahrheit ist diese anarchistische Privat-Autonomie geboren aus der Denkhaltung eines Libertären, eines Anhängers des Libertarimus.[4] Sie schafft dennoch Angriffspunkte für Gegner der Liberalen. Wie aus obigem Zitat erkennbar, hält sich der Autor selbst für einen „Liberalen“. Da auch Linke und Rechte aus agitatorischen Gründen gern auf die Unterscheidung zwischen Libertären und Liberalen verzichten, wird daraus ein Zerrbild des Liberalismus, das sich gut als Feindbild seiner Gegner eignet.
Im politischen Liberalismus Kantscher Prägung gibt es dagegen keine egoistische Vereinzelung der Freiheit auf das Individuum. Was im Zitat als moralfreie Position eines „Liberalen“ gekennzeichnet wird, ist zudem eine widersprüchliche Denkhaltung:
Welchen Sinn sollte es haben, wenn sich zwar die Politik nicht in mein Leben einmischen darf, aber jeder private Kontrollfreak unter Berufung auf seinen „liberalen“ Lebensstil? Spielt es überhaupt eine Rolle, ob ein Monopol staatlicher oder privater Natur ist? Und gibt es im Liberalismus wirklich „keine universelle Moral und keinen ethischen Grundsätze“, welche die uneingeschränkte Machtausübung eines Individuums ausschließen? Wie passt das zusammen mit John Stuart Mills[5] Aussage zum Liberalismus: „Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten“? Wird hier der Liberalismus von Libertären und seinen Gegnern mit einer Erbsünde belastet, die ihm nie mitgegeben wurde?
Dem Liberalismus ging es von Beginn an um die Befreiung des EINZELNEN von despotischer Herrschaft der Staaten und Fürsten und von ständischen Zwängen der nichtstaatlichen Zünfte, Gilden und Innungen. Kollektivismus und Kollektive jeder Art wurden von Liberalen in erster Linie als Zwangsgewalt empfunden. Die Freiheit DES Einzelnen war der wesentliche Orientierungspunkt, insbesondere im passiven oder „negativen“ Sinne als „Freisein von“, also als Nichteinmischung anderer Menschen und Kollektiven in die individuelle Selbstbestimmung. Das galt besonders für den größten Moloch, den (absolutistischen) Staat. Diese Forderung nach Freiheit betraf zunächst nur männliche Bürger.[6] Frauen, Knechte und Arbeiter waren ausgegrenzt. Daher galten die Liberalen als Muster einer bürgerlichen Bewegung. Ihr bürgerlicher Ausgangspunkt hängt den Liberalen bei Linken und Grünen noch heute nach.
Doch waren es wiederum Liberale, die das allgemeine Wahlrecht erzwangen, das der Frauen im Besonderen[7]. Bahnbrechend war lange zuvor die Schrift „The Subjection of Women“ von John Stuart Mill.[8]Danach war „der Einzelne“ im Sinne der Liberalen nicht mehr nur der männliche Bürger, sondern jede Frau und jeder Mann. Die politische Ausgrenzung von Frauen und nichtbürgerlichen Gruppen heute noch als „Erbsünde“ der Liberalen anzusehen, ginge daher zu weit. Diese Sünde aus den Anfängen der liberalen Bewegung ist längst getilgt, durch die Liberalen selbst.
Anders als Anhänger der linken Sammlungsbewegung, die selbstgerecht von „linker Moral und neo-liberalen Interessen“[9] reden, haben andere erbitterte Gegner der Liberalen wie Sardá (Teil 3) die Existenz einer liberalen Moral nie geleugnet. Sie haben allein gegen deren gottlosen Ursprung aus der menschlichenVernunft gewettert.
Besonders deutlich wird der Kern dieser liberalen Moral bei Immanuel Kant, einem Nestor liberaler Philosophie. In seinem „Kategorischen Imperativ“ wird die Freiheit DES Einzelnen unauflösbar mit der Freiheit DER ANDEREN verknüpft und mit der Pflicht zu Toleranz und Verantwortung. Zusammen wird daraus die Freiheit DER Einzelnen. Zwei der vielen Fassungen lauten[10]:
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Oder: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“
Immanuel Kant, der solche moralischen Pflichten des Einzelnen ausruft, gilt nicht zu Unrecht als „Vollender der Aufklärung. Er ist der ‚tiefste, ja, der metaphysische Begründer des Liberalismus‘ (Joel)“[11]. Mit der Forderung Kants steckt im Liberalismus nichts vom sozial unverantwortlichen Einzelnen. Das werfen Linke Liberalen zwar vor, doch sie können damit nur Libertäre meinen. Freiheit ohne Verantwortung, „anarchistische Autonomie“ wie im obigen Zitat, passt nicht zusammen mit dem liberalen Freiheitsbegriff Immanuel Kants.
Der Liberale als Egoist und verantwortungsloser Geselle steht in krassem Gegensatz zu Kants Freiheitsidee und zu der vom Ordoliberalismus geforderten Einheit von Entscheidungsmacht und persönlicher Verantwortung. Individuelle Verantwortung und Haftung sind der Preis der liberalen Freiheit.
Daher ist es paradox, wenn der Vorwurf der Verantwortungslosigkeit von Menschen kommt, die sich selbst ihre Entscheidungen und Verantwortung abnehmen lassen: durch Unterwerfung unter ein Dogma und staatliche oder kirchliche Institutionen. Damit sind sie selbst die „verantwortungslosen Gesellen“, als die sie Liberale gern an den Pranger stellen. Nur auf Libertäre trifft ihr Vorwurf zu (Neschle 84).
Bei Liberalen hat jedoch jeder Einzelne persönliche Verantwortung und Haftung für sein Tun. Das hat beim Ordoliberalismus sogar zur Ablehnung der Aktiengesellschaft geführt[12], ohne die sich die meisten unsere Wirtschaft nicht vorstellen können. Der Grund für diese Ablehnung: Manager haben bei Fehlentscheidungen keinen Eingriff in ihr persönliches Vermögen zu fürchten. Außer bei Straftaten lassen sie sich kaum zur Verantwortung ziehen, zumal die meisten durch eine (D&O-) Versicherung geschützt sind. So manche Krise wäre aber verhindert worden, hätten die Vorstände und Aufsichtsräte von Aktiengesellschaften für wirtschaftliche Fehlentscheidungen persönlich zu haften, genau wie der persönlich haftende Unternehmer, mit dem sie sich oft und gerne vergleichen, oder wie der Vorstand einer Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA). Die soziale Verpflichtung der Vorstände der größten Unternehmen in der Rechtsform der Aktiengesellschaft zeigt also erhebliche Lücken.
Die moralische und soziale Verpflichtung Kants hat das liberale Denken tief geprägt. Sie hat ihre Wurzel in der Vernunft jedes Individuums. Das ist anthropozentrisch oder aus der Sicht eines Einzelnen sogar „egozentrisch“. Durch ihren sozialen Bezug macht die Verpflichtung, die Freiheit anderer zu achten, den Liberalen jedoch nicht zugleich egoistisch und erst recht nicht egoman.
Nur wer das als Gegner des Liberalismus boshaft oder fahrlässig ignoriert, kann Liberalismus auf Egoismus und grenzenlose Egomanie reduzieren. Denn dem Liberalen ist seine Freiheit immer auch Freiheit der anderen. In letzter Konsequenz bedeutet Liberalismus daher „kosmopolitisch zu sein und die Verletzung von Leben und Freiheit der Mitglieder jedweder Rasse oder Gruppe überall auf der Erde zu seiner ureigenen Angelegenheit zu erheben.“[13] So ist dieses Konzept des verantwortungsvollen Liberalismus moralisch kaum anfechtbar, eher moralisch überfordert[14]:
„Je enger die Welt mit Hilfe der Technik zusammenrückt, desto schneller stößt man an die Freiheiten der anderen … . Der alte Grundsatz des Liberalismus läuft heute auf die Einsicht hinaus, dass es die Freiheit, wie sie die Aufklärer meinten, bald kaum noch geben dürfte, und zwar nicht, weil die Menschen sie nicht mehr wollen, sondern weil die Welt ein anderer Ort geworden ist.“
Im Liberalismus gibt es keine Freiheit zur Egomanie. Wer nach der Freiheit der Liberalen ruft, muss bereit sein, sich selbst zu beschränken um der Freiheit anderer willen. Der Zeigefinger des linken, rechten oder religiösen Extremisten, der anklagend auf den Egoismus der Liberalen zeigt, unterschlägt drei Finger, die auf ihn selbst zurückweisen, auf das sie einigende Diktat eines alle Menschen bindenden Dogmas, das die Freiheit Andersdenkender ignoriert.
Der Vorwurf des liberalen Egoismus hat seinen Ursprung vor allem bei den Kritikern des „Wirtschaftsliberalismus“, der oft mit dem „Neoliberalismus“ gleichgesetzt wird. Zieht nicht die Gier ihre Nahrung aus dessen „Marktradikalismus“? Falls das so ist, sollte man erwarten, dass im „Wörterbuch des Neoliberalismus“[15] der Begriff „Markt“ die herausragende Bedeutung hat. Doch in einer liberalismuskritischen Analyse der zwanzig häufigsten Begriffe neoliberaler Publikationen taucht der Begriff „Markt“ nicht einmal auf. Am häufigsten sind „Mensch“ und „Freiheit“ auf Rang 1 und 2. „Gesellschaft“; „Ordnung“, „Staat“ und „Gesetz“ kommen auf den Rängen 6, 7, 16 und 17; dazwischen noch „Wissen“ auf Rang 10.
Wer hat sich da vertan? Die Neoliberalen selbst bei ihrer eigenen Philosophie oder diejenigen, die Neoliberale als „Markt-Radikale“ bezeichnen? Die Antwort liegt auf der Hand. Der ursprüngliche Neoliberalismus war „weit davon entfernt, Marktradikalismus zu propagieren. Er war als antikommunistischer und antikapitalistischer Dritter Weg konzipiert“.[16] Dies gilt insbesondere für die Freiburger Schule und für Alexander Rüstow, den Schöpfer des Begriffs „Neoliberalismus“. Von den Kritikern hätte man erwarten dürfen, dass sie an dieser Quelle nachschlagen, doch ich bezweifle, dass die meisten ihn überhaupt kennen. Dieser Neoliberalismus unterscheidet sich nämlich deutlich vom (Neo-)Neo-Liberalismus der Chicago-Schule, den man schon eher mit „Marktradikalität“ identifizieren könnte. Der ist es in der Regel, den die Kritiker meinen, wenn sie von „Neo-Liberalismus“ reden und nicht den ursprünglich von Rüstow geprägten Begriff. Nur dieser wird hier „Neoliberalismus“ geschrieben.
Was Liberale am Markt fasziniert und seinen Widerhall in Metaphern des klassischen Liberalismus wie der „unsichtbaren Hand“ findet, ist gerade, dass dadurch dem persönlichen Egoismus und der Gier Schranken gesetzt werden durch den Ausgleich widerstreitender Interessen. Monopole, Kartelle oder Vetternwirtschaft sind unerwünscht, denn sie hebeln diese Marktfunktion aus. Daher hat es mit „Marktfolgen“ nichts zu tun, wenn sich Vorstand und Betriebsrat gegenseitig hohe „Apanagen“ zuschanzen, obwohl Kritiker des Liberalismus das gern „dem Markt“ zuschreiben.[17] Mit Gier schon eher, doch die kommt gerade dadurch zur Wirkung, dass die Gierigen hier die öffentliche Kontrollfunktion des Marktes ausschalten. Dasselbe gilt für exorbitante Managementgehälter, bei denen komplexe Vergütungsstrukturen einen Marktvergleich und Marktkontrolle faktisch unmöglich machen (sollen).[18]
Aber nicht nur egoistische Motive spiegeln sich in den Markpreisen wider. Ist jemandem sein Altruismus so viel wert, dass er Marktpreise zahlt für Güter und Leistungen, die er Bedürftigen schenken will, findet sich auch dieses altruistische Motiv im Marktpreis wieder. Dasselbe gilt für Geschenke aus Liebe oder Zuneigung und für soziale Stiftungen oder Schenkungen.
Der Markt fragt seine Teilnehmer nämlich nicht nach ihren Motiven. Daher verurteilt er keines davon, weder ein egoistisches noch ein altruistisches. Daraus dass der Markt auch egoistische Motive zulässt, folgt jedoch nicht, dass er nur diese Motive zulässt und keine sozialen oder altruistischen. Wie gern Moralapostel egoistische Motive auch ganz ausschalten möchten: Man kann dem Markt als Organisationsmittel für den regelgebundenen Austausch von Individuen kaum vorwerfen, dass er als Marktteilnehmer auch Menschen mit egoistischen Motiven zulässt. Denn moralisieren nützt wenig, wenn es an der gesellschaftlichen Realität vorbeigeht. Diese Realität zwingt dazu, bei den Organisationsmitteln unserer Gesellschaft egoistische Motive einzubeziehen. Denn sie müssen unabhängig von den nicht kontrollierbaren Motiven der Beteiligten funktionieren.
Als Egoist gilt vielen der „homo oeconomicus“, der als DIE Symbolfigur eines gierigen Liberalismus gehandelt wird. Doch selbst der kann von altruistischen Motiven getrieben sein. Das verkennen selbst Liberale, die meinen, der „homo oeconomicus“ sei ein allein von egoistischen Zielen beherrschter Typus Mensch ohne soziale Verantwortung. Als solcher aber prägt er liberales Denken nach Auffassung von Kritikern undAnhängern des Liberalismus. Doch hinter der Behauptung vom egoistischen „homo oeconomicus“ stecken schwere Denkfehler und ein grob fahrlässiger Rufmord an der ethischen Bindung des Liberalen:
1. Der „homo oeconomicus“ ist kein „Typus Mensch“, sondern eine Kunstfigur, ein Avatar geschaffen für das Spiel der mikroökonomischen Modelltheorie. Erst durch eine unkritische Übertragung auf die Realität wird er zu einem „Typus Mensch“. So wird seine Funktion im Modell einfach in eine fiktive Rolle in der Gesellschaft transponiert.
2. Um im Modell kontrollierte und präzise Aussagen zu machen, ist diese Kunstfigur unschöpferisch und völlig unfrei erschaffen. Sie hat nichts vom kreativen Unternehmer. Sie reagiert mechanisch auf ökonomische Zwänge, ohne Phantasie oder Entscheidungsfreiheit. Genau diese Unfreiheit macht den „homo oeconomicus“ ungeeignet für ein „Menschenbild“ einer freiheitlichen Philosophie. Geeignet ist diese Figur hingegen für präzise theoretische Prognosen von Handlungsergebnissen im Modell. Dazu wurde sie geschaffen. Denn durch die Annahme eines Subjekts mit freier Entscheidung würden präzise Prognosen nahezu unmöglich. Freiheit lässt ja gerade offen, wie sich jemand entscheidet.
3. Der „homo oeconomicus“ maximiert im Modell den eigenen Nutzen ohne jeden sozialen Bezug. Das scheint auf den ersten Blick „egoistisch“. Auf den zweiten Blick könnte es sein wie bei einer rational geführten gemeinnützigen Stiftung. Den eigenen Nutzen können nämlich auch altruistische oder soziale Motive bestimmen. Was auf den ersten Blick egoistisch scheint, spricht in Wahrheit nur für konsequenten Rationalismus, der auch für altruistische Ziele eingesetzt werden sollte, wenn man sie unbeirrt verfolgen will. Rational ist nicht gleich egoistisch!
Erläuterungen im Einzelnen (Gegebenenfalls überschlagen!):
1. Der „homo oeconomicus“ ist eine Kunstfigur der mikroökonomischen Theorie, die es erlaubt, unter der Bedingung vollkommener Information aller Marktteilnehmer über alle Marktparameter einen einzigen Gleichgewichtspreis und ein Gewinnmaximum exakt zu berechnen. Dazu verfolgt diese Kunstfigur strikt rational ökonomische Ziele. Ob sich hinter diesen Zielen Gier oder Altruismus als Motiv verbirgt, ist für ihre Funktion im Modell irrelevant.
Auch um soziale oder altruistische Ziele effizient zu verfolgen, muss man zielgerichtet handeln. Altruistische Stiftungen können ihr Ziel nicht erreichen, wenn sie sich bei ihrem Tun nicht von ökonomischer Effizienz und Stringenz leiten lassen. Effizienz verlangt daher von ihnen „Zweckegoismus“ in der Verfolgung altruistischer Ziele. Das ist kein Widerspruch, zeigt aber, wie leicht „rational“ und „egoistisch“ verwechselt werden.
Dass gestandene Wissenschaftler eine Kunstfigur der Theorie nicht von einem Menschenbild unterscheiden (können), kommt auch jenseits der Ökonomie vor. Denselben Fehler macht der berühmte Psychologe Frederic Skinner, indem er seine behavioristische Kunstfigur aus psychologischen Experimenten in „Jenseits von Freiheit und Würde“ („Beyond Freedom and Dignity“)[19] zum „Menschenbild“ hochstilisiert:
Seine Experimente fußen auf einem Reiz-Reaktionsschema (Stimulus-Response). Menschen werden darin einem messbaren Reiz ausgesetzt, der zu einer messbaren Reaktion führen soll. Zum Zwecke der Messbarkeit betrachtet dieser Ansatz allein das äußere Verhalten und erspart dem Forscher den Blick in das dunkle Innere des Menschen, die Black-Box.
Weil der Forscher das Innere als nicht messbare Black-Box ausspart und dennoch „psychologische“ Aussagen möglich scheinen, ist Skinner überzeugt – hier kommt der fragwürdige Sprung in die Realität –, dass auch jeder reale Mensch nur durch äußere Reize auf bestimmte Reaktionen hin steuerbar ist. Allein äußere Reize seien für sein Verhalten „verantwortlich“. Kein Mensch ist innerlich frei in seiner Entscheidung, jeder ist allein außengesteuert. Es gibt daher weder Freiheit noch Würde.
Der Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ wäre nur in dem Sinne gültig, dass nicht antastbar ist, was es gar nicht gibt. Keinen Menschen trifft Schuld oder Verantwortung, selbst Mörder nicht. „Persönliche Verantwortung“ ist eine Chimäre, ebenso wie die von Liberalen postulierte individuelle Freiheit. Der zwanghaft reagierende und nie frei agierende „Mensch“ des Behaviorismus passt daher ebenso wenig zum Liberalismus wie der „homo oeconomicus“. Er ist seine psychologische Parallelfigur.
Diese Geschichte dieses Fehlers wiederholt sich jüngst bei Hararis „homo deus“.[20] Auch der verwechselt Modellwelt und Realität. Er behauptet: „Organismen sind Algorithmen…. Die Algorithmen, aus denen ein Mensch besteht, sind nicht frei. Sie sind beeinflusst von Genen und Umweltzwängen und treffen Entscheidungen entweder deterministisch oder zufällig, aber niemals frei.“
Doch der Mensch selbst und seine Entscheidungen werden allein für theoretische Zwecke der Messbarkeit und Vorhersagbarkeit abstrahierend als Algorithmus betrachtet (!). Dann kehrt Harari dies einfach um und identifiziert seine Modelfigur „der Mensch als Algorithmus“ (betrachtet!) mit dem realen Menschen: Dann trifft nicht der freie Mensch Entscheidungen, sondern ein ferngesteuerter Algorithmus. Aus Algorithmen „bestehen“ dann nicht nur seine Modellavatare, sondern auch seine realen Menschen in der realen Gesellschaft.
Doch besteht ein Mensch aus „unfreien Algorithmen“ oder nicht eher aus Fleisch und Blut, Wünschen und Träumen? Verwechselt Harari nicht eine „Playmobil-Figur“, mit der die Wissenschaft besser spielen und messen kann, mit einem realen Menschen, mit dem das Spielen und Prognostizieren nicht so leicht geht? Und gibt es daneben nicht andere Modelle des Menschen, andere Avatare in den theoretischen Kunstwelten von Soziologie, Ökonomie oder Biologie? Natürlich gibt es die! Doch sie alle sind nur alternative Modellavatare, Kunstfiguren und Abstraktionen, die nicht den Menschen als lebendigen Ganzen abbilden, sondern für theoretische Zwecke auf einen Aspekt des Menschseins fokussieren.
2. Objektive Kontrollierbarkeit ist der wissenschaftliche Zweck der Erschaffung solcher Kunstfiguren, weil nur auf diese Weise exakte Aussagen möglich sind. Denn Entscheidungsfreiheit in der theoretischen Black-Box macht die Beziehung zwischen Reiz und Reaktion zufällig und unberechenbar. Das aber ist nicht vereinbar mit dem Streben der Wissenschaft nach belastbaren Ergebnissen und klaren Vorhersagen. Daher wird den menschlichen Avataren im Modell die Freiheit genommen. So wird der Avatar zum Spielball von äußeren Anreizen oder Stimuli, denen er messbar und vorhersehbar folgt.
Mit dem realen Menschen hat das nicht zwingend etwas zu tun. Denn nur so werden die geforderten Ergebnisse geliefert und so kommt man der Naturwissenschaft nahe, die es nicht mit denkenden und freien Wesen zu tun hat. In der Naturwissenschaft entscheidet allein, was real ist; in der Sozialwissenschaft aber oft, was der Mensch nur denkt und kommuniziert: richtig oder falsch, Fiktion, Wahrheit oder Fake. Nicht nur das, was wirklich ist, kann sein Tun bestimmen. Er kann Aktien verkaufen, nur weil er fälschlich denkt, eine Unternehmung stünde vor der Insolvenz und falls er auch andere dasselbe denken macht, kann er damit eine Insolvenz auslösen, die es ohne seine falsche Überzeugung nie gegeben hätte.
Etwas, das es ohne eine menschliche Meinung oder Überzeugung nie geben würde, wird dadurch Realität. In der Naturwissenschaft sucht man solche self-fulfilling prophecies vergeblich, ebenso ihr Gegenstück, die self-destroying prophecies: Horrorszenarien, die sich nie realisieren, nur weil der Mensch etwas dagegen unternimmt, angetrieben durch eine (falsche oder richtige) Prophezeiung. Dieser fundamentale Unterschied zur Naturwissenschaft wird in einer nach derselben Exaktheit strebenden Sozialwissenschaft aus wissenschaftlichem Ehrgeiz gern übersehen. Oder dieser „Webfehler der Sozialwissenschaften“ wird durch solche völlig unfreie Avatare künstlich ausgeschaltet.
In der Naturwissenschaft gibt es nämlich keine solchen sich selbst erfüllenden oder sich selbst zerstörende Prophezeiungen, durch die sich die Welt verändert, nur weil der Mensch irgendetwas Falsches oder Richtiges darüber denkt und danach handelt.[21] Das aber passt nicht ins Bild einer Sozialwissenschaft, die den Naturwissenschaften nacheifert. Die braucht Avatare, die so reagieren wie eine Kugel, die jeden äußeren Anstoß in eindeutig definier- und messbare Reaktionen verwandelt. Damit aber wird implizit die wissenschaftliche Besonderheit sozialwissenschaftlicher Probleme ignoriert oder sogar geleugnet.
Von dieser Abstraktion für wissenschaftliche Zwecke und von der bloßen Reagibilität des Kunstweltavatars kann man aber nicht auf die tatsächliche Unfreiheit des Menschen schließen. Man abstrahiert von der Entscheidungsfreiheit des Menschen ja nur deshalb, weil menschliche Freiheit die wissenschaftliche Arbeit in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu kompliziert macht und eigenständiges Handeln die Ergebnisse nicht mehr exakt prognostizierbar.
Wäre ein solcher Avatar ein realer Mensch, wäre er nicht nur unfrei, sondern auch permanent angetastet sein in seiner Würde. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hätten sich vergebliche Mühe gegeben bei allen Artikeln, die sich mit der „Freiheit und Würde“ des Menschen befassen und mit seiner Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Kein Mensch wäre vor Gericht wegen seiner Schuld zu verurteilen. Schuld trüge immer und allein die Gene, die Gesamtgesellschaft und die davon ausgehenden Reize. Bei Strafdelikten gäbe es allein Sicherungsverwahrung oder im Extremfall die Ausmerzung „lebensunwerten Lebens“. Mit Menschen ohne Würde kann so etwas geschehen.
In allen Modellen mit dem „homo oeconomicus“, dem „behavioristischen Menschen“ Skinners oder dem „Algorithmus-Menschen“ Hararis geht es allerdings nie um Schuld. Niemand stellt darin die Schuldfrage oder will sie mit diesen Modellen beantworten. Zu diesem Zweck sind die Modelle nicht gemacht. Daher schadet es dem Zweck dieser Modelle nicht, wenn ihre Kunstfiguren unfrei konzipiert sind wie die Spielfiguren eines Kindes.
Dagegen muss ein Modell, in dem es um Klärung von Schuldfragen geht, bei seinen Modellfiguren zumindest rudimentär Freiheit unterstellen. Ohne Freiheit keine Verantwortung, ohne Verantwortung keine Schuld. Dazu aber braucht man ein Modell mit der Annahme freier Avatare. Auf exakte Prognosen von Handlungsergebnissen wird man bei diesem „juristischen“ Modell dann jedoch verzichten müssen.
Skinner hätte es eigentlich stutzig machen müssen, dass die Reaktion der realen Menschen in seinen Experimenten anders war als bei den seinen behavioristischen Avataren. Die Testpersonen folgten den angebotenen Reizen faktisch nie mit 100%iger Konsequenz. Zudem entstanden „Artefakte“, weil im Experiment unkontrollierte Reize bei ihnen Reaktionen auslösten und Wissenschaftler nachträglich falsche Reize und Reaktionen verknüpften. Denn selbst im Experiment ist der Mensch nicht völlig kontrollierbar, auch wenn man versucht, durch die Versuchsanordnung vollständige Kontrollierbarkeitkünstlich herzustellen. Es gibt daher nie reine Reaktivität und absolute Unfreiheit der Versuchsperson. Denn: „Die Gedanken sind frei. Wer kann sie erraten?“[22]
Was im Experiment künstlich erzeugt wird, lässt nicht als natürliche Unfreiheit des realen Menschen deuten. Reale Menschen nutzen sogar den letzten Rest ihrer Freiheit im Experiment, um bewusst oder unbewusst aus der Versuchsanordnung auszubrechen und stören damit die Zuordnung ihrer Reaktion zum experimentellen Reiz und die Prognostizierbarkeit ihrer Reaktion.
Der „homo oeconomicus“ wirkt als Modellfigur allerdings noch abstrakter und beschränkter als Skinners „behavioristischer Mensch“. Er reagiert streng rational allein auf ökonomische Anreize. Er macht keine Fehler, weil er über vollkommene Information über alle relevanten Parameter verfügt. Das macht sein Verhalten absolut vorhersehbar, zumal ihn Rasse, Religion, Hautfarbe und Gewalt nicht interessieren: Unerwartetes kann niemand von ihm erwarten. Weil das so ist, ist er Spielball der Parameter seiner Modellwelt. Damit ist er zugleich völlig ungeeignet als zentrale Figur jeder Philosophie der Freiheit.
3. Der Avatar in der mikroökonomischen Modellwelt will nur seinen Nutzen maximieren. In einem solchen Modell kann er das auch. Nur hier ist ein „Maximum“ bestimmbar. Denn es gibt keine Ungewissheit und keine Institutionen, weder Unternehmungen noch Gesetze, etwa über Wandelung oder Minderung beim Kaufvertrag. Die sind ebenso unnötig wie Rechnungslegung, weil den „Marktteilnehmern“ alles bekannt ist und sofort „eingepreist“ wird, sich also im Preis des Modellmarktes niederschlägt.
In der realen Welt dagegen kann kein Unternehmensleiter sagen, ob er das Gewinnmaximum erreicht hat. Er weiß nicht, ob er einen niedrigeren Preis bei Lieferanten oder einen höheren bei Kunden hätte aushandeln können. Daher wäre es für ihn ein Witz, nach einem Maximum zu streben, von dem er nicht wissen kann, ob er es erreichen kann. Er weiß ja nicht einmal, wenn und wann er es erreicht hat. Sein Streben danach wäre wie der Versuch, an einem unbekannten Ort als Erster da zu sein.
Kein gesunder Geist strebt daher in der Realität nach einem solchen Maximum, sondern stattdessen nach Verbesserungen, z.B. gegenüber der Vorperiode oder der Konkurrenz, heute „Benchmarking“ genannt. Doch obwohl niemand seinen Gewinn real maximieren kann, behauptet vor allem die Linke egoistische und asoziale „Gewinnmaximierung“ als typisch „marktliberale“ oder „kapitalistische“ Zielsetzung und bekämpft ideologisch einen Gewinnmaximierer, den es real mangels vollkommener Information gar nicht geben kann. Das ist nicht einmal ein Papiertiger: das ist ein Hirngespinst.
Für den Gewinn als Zielinhalt gilt dasselbe wie für das Maximum als Zielausmaß. Nur im mikroökonomischen Modell, wo eine „Unternehmung“ lediglich eine Kombination aus Kosten- und Erlösfunktion ist, taugt der Gewinn dieser „Unternehmung“ als Zielgröße für eine „Maximierung“. In der Realität nicht:
Angenommen eine reale Unternehmung habe einen Gewinn von 100.000 Euro erzielt. Sie kann diesen Betrag reinvestieren oder an die Investoren ausschütten zum Konsum oder zur Investition in andere Unternehmungen. Um den Gewinn dieser Unternehmung zu „maximieren“, muss der Vorstand in sie reinvestieren, wenn sie dadurch zusätzlichen Gewinn macht, egal wie hoch der ist. Es genügt ein einziger Euro. Der würde zur Maximierung fehlen, wenn der Vorstand den Vorjahresgewinn ausschüttet und die Eigner den einen Euro woanders investieren oder konsumieren.
Tatsächlich würden Eigner aber sogar die 100.000 Euro entnehmen, wenn sie woanders bei vergleichbarem Risiko dauerhaft einen höheren Gewinn erwarten als diesen einen Euro. Damit entscheiden sie sich aber gegen die Maximierung des Gewinns bei der gewinnerzielenden Unternehmung. Sie verzichten auf zusätzlichen Ertrag dort und verfehlen dort den maximalen Gewinn um diesen Euro. Gegen diesen Verzicht steht nämlich der größere Verzicht auf höhere Gewinne, wenn sie nicht zu den besseren Konditionen investieren.
Auch das Streben nach Maximierung des Gewinns einer Unternehmung hat daher nur im Modell seinen Platz. Die Maximierung scheitert in der Realität am Mangel an Informationen, der Gewinn als Zielgröße an höheren Gewinnerwartungen anderer Unternehmen, die im Modell über die Annahme eines vollständigen und vollkommenen Kapitalmarktes wegdefiniert sind.
Statt um den Gewinn eines Unternehmens geht es um das Einkommen der Eigentümer, wie jeder Einzelkaufmann weiß und wie die Shareholder Value-Bewegung es auch für Kapitalgesellschaften einfordert. Durch sie wurden „Kosten“ des Eigenkapitals von Null (Eigenkapital kostet nichts, weil es Gewinne erzielt.) durch seine „Opportunitätskosten“ ersetzt: Der bei Alternativen entgehende Gewinn wird wie (Kapital-)Kosten behandelt. Im obigen Beispiel würde der zusätzliche Ertrag von einem Euro gekürzt um die bei einer Alternative erzielbaren Erträge. Bei mehr als einem Euro dort wäre das Ergebnis negativ und die Reinvestition eine Fehlentscheidung, obwohl nur sie allein den Gewinn der Unternehmung „maximieren“ würde. Der Gewinn einer Unternehmung als Zielgröße bewirkt daher eine Fehlallokation ihrer Finanzmittel.
(Ende der Erläuterungen)
Der „gewinnmaximierende homo oeconomicus“ ist zugleich Zerrbild der Realität, weil es ihm wegen der Ungewissheit real nicht möglich ist zu „maximieren“ und es wegen realer Renditeunterschiede zugleich nicht sinnvoll wäre, den Gewinn einer Unternehmung zu maximieren, weil es um das persönliche Einkommen geht (siehe die Erläuterungen oben). Und auch der Egoismus eines „Gewinnmaximierers“ lässt sich dem mikroökonomischen Modell nicht entnehmen. Dort ist nämlich nicht gesagt, für welchen Zweck die konsequent rational handelnde Kunstfigur „homo oeconomicus“ ihren Gewinn verwenden will. Dieser Zweck könnte eigennützig, aber auch sozial verantwortlich und altruistisch sein. Das ist völlig unbestimmt.
Das „Menschenbild“ des „homo oeconomicus“ wird oft und nicht nur von Gegnern des Liberalismus in den Mittelpunkt wirtschaftsliberalen Denkens gestellt[23]. Aber wie kann ein völlig unfreies und phantasieloses Kunstwesen im Zentrum einer freiheitlichen Philosophie stehen? Der ihm zwang- und fehlerhaft zugeschriebene Egoismus reicht den Gegnern des Liberalismus offenbar, den Modellavatar des Wirtschaftsliberalismus zur Galionsfigur aller Liberalen zu erheben, selbst wenn der vordergründige Egoismus in Wahrheit schierer Rationalismus ist: „Gläubige Neoliberale und ihre erbitterten Gegner sind gleichermaßen auf das Zerrbild eines dogmatischen Wirtschaftsliberalismus fixiert.“[24] So unterstützen selbst Liberale die auf falschen Anschuldigungen beruhende Rufmordkampagne der Gegner des Liberalismus.
Dabei taugt der „homo oeconomicus“ überhaupt nicht für das Bild eines egoistischen Liberalen, der absolute Freiheit fordert und jede kollektive und private Einmischung ablehnt. Rund um diese zwangsgesteuerte Modellfigur tauchen diese Fragen nicht einmal auf. Im politischen Liberalismus und dessen Philosophie zeichnen der kategorische Imperativ und der Ordoliberalismus ein ganz anderes Bild. Da wird der liberale Mensch verpflichtet, bei seinem Tun die sozialen Folgen für die Freiheit der anderen abzuwägen, für die Nutzung seiner Freiheit Verantwortung zu tragen und für die Folgen zu haften.
Oft verzerren Libertäre das Bild des Liberalismus, mit ihrem Streben nach grenzenloser Freiheit für sich selbst, ohne jede soziale Rücksicht, weil die Öffentlichkeit nicht unterscheiden kann oder nicht will oder weil dadurch das Feindbild aller Extremisten zerstört würde.[25] Damit hängt die dritte Erbsünde des Egoismus aber nur „Scheinliberalen“ an, die Freiheit, Verantwortung und Haftung entkoppeln wollen. Mit dem klassischen Neoliberalismus nach Rüstow und dem Liberalismus Kantscher Prägung hat diese Erbsünde überhaupt nichts zu tun.
Das krasse Gegenteil zur freiheitlichen Philosophie des Liberalismus sind die übergriffigen Ideologien von Kommunismus, Nationalsozialismus oder Islamismus, die alle Bereiche des Lebens aller Menschen durchdringen wollen, sich in die hintersten Zellen der Gehirne fressen und dies mit Hilfe einer Gedankenpolizei sicherstellen wollen, sei es nun Stasi, Gestapo oder Religionspolizei. Hier verdrängt der von der Ideologie ausgerufene kollektive Zwang jede persönliche Freiheit anderer, sogar die ihrer Befürworter und Anhänger.
Doch wer sind diese anderen, deren Freiheit der Liberale neben seiner eigenen Freiheit zu beachten hat? Sind es auch solche, die (noch) nicht wählen dürfen, ja sogar solche, die noch nicht geboren sind, die Generationen unserer Enkel und Urenkel? Wer deren Freiheiten ernst nimmt, muss sie bereits heute in die Entscheidungen einbeziehen. Denn was wir heute tun, vernichtet Optionen für die nachfolgenden Generationen und schränkt deren Freiheit ein, oder es erhält und schafft neue Optionen und ermöglicht ihnen mehr Freiheit. Mit Blick darauf ließe sich fragen: Schaffen wir durch politisches Handeln mehr und bessere Optionen für unsere Nachkommen oder vernichten wir solche Optionen? Harari hat dafür folgendes Beispiel[26]:
„Wenn ich 100 Millionen Dollar in die Ölsuche in Alaska investiere und dort auf das Schwarze Gold stoße, dann habe ich zwar mehr, aber meine Enkel werden weniger haben. Wenn ich hingegen 100 Millionen Dollar in die Erforschung der Sonnenenergie investiere und eine neue, effizientere Methode entwickle, sie zu nutzen, werden meine Enkel über mehr Energie verfügen“.
Damit gibt es eine Entscheidung, die Freiheit der Folgegenerationen einzuschränken oder zu erweitern. Hier liegt daher eine Schnittstelle zwischen Liberalismus und Umweltschutz (einschließlich des Klimas). Doch erst in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wuchs die Erkenntnis: „Freiheit ist auch Freiheit von morgen, denn die Natur steht allen Generationen gleichermaßen zu. Der Liberalismus muss auch auf die Nachwelt bezogen werden“.[27] In diesem Sinne haben unsere Altvorderen Liberalismus nie verstanden. Dazu hätten sie allerdings seherische Fähigkeiten haben müssen. Fragen des Umweltschutzes wie auch des Tierwohls blieben in den frühen Entwürfen des Liberalismus außen vor.
[1] Vgl. dazu z.B. den Wikipedia-Artikel über Bernard Mandeville, https://de.wikipedia.org/wiki/Bernard_Mandeville. (19.03.2020)
[2] https://www.cicero.de/innenpolitik/nicht-liberal-sondern-stockkonservativ/42902. (18.11.19)
[3] Vgl. dazu Katja Tichomirowa, Pädophilie Forscher: Grüne wollten Sex mit Kindern legalisieren, https://archiv.berliner-zeitung.de/paedophilie-forscher–gruene-wollten-sex-mit-kindern-legalisieren–3792714. (27.12.2019) Sowie Gerd Nowakowski, Grüne und der Kindesmissbrauch Sich schämen reicht nicht!, https://www.tagesspiegel.de/politik/gruene-und-der-kindesmissbrauch-sich-schaemen-reicht-nicht/11805128.html. (27.12.2019)
[4] Vgl. dazu Libertarismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Libertarismus. (27.12.2019)
[5] Zitiert nach Dieter Schnaas, Liberalismus – Der Sinn der Freiheit, Abschnitt „Der Eigentumsbegriff), https://www.wiwo.de/politik/deutschland/liberalismus-der-sinn-der-freiheit/8881474.html. (23.03.20)
[6] Vgl. dazu Dieter Langewiesche, Wie schreibt man künftig eine Geschichte des „Liberalismus in Deutschland, Ewald Grothe, Jürgen Frölich, Wolther von Kieseritzky (Hrsg.), Liberalismus-Forschung nach 25 Jahren, Bilanz und Perspektiven, 1. Auflage Baden-Baden, S. 193-210, hier S. 200-203.
[7] Ebenda, S.200, 202.
[8] Vgl. dazu den Abschnitt „Liberalismus und Frauenemanzipation“ im Wikipedia-Artikel „Liberalismus“, https://de.wikipedia.org/wiki/Liberalismus. (20.03.20)
[9] Bernd Stegemann, Sahra Wagenknecht, Linke Sammlungsbewegung – Von linker Moral und neoliberalen Interessen, https://www.zeit.de/2018/24/linke-sammlungsbewegung-sahra-wagenknecht-populismus. Klammerzusatz R.E.(15.03.20)
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorischer_Imperativ. (15.11.19)
[11] https://katholischglauben.info/die-freudlose-philosophie-kants. 28.10.19)
[12] Vgl. dazu Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952, S. 281, oder Franz Böhm, Die Kapitalgesellschaft als Instrument der Unternehmenszusammenfassung. In: Helmut Gutzler Wolfgang Herion; Joseph H Kaiser (Hrsg.), Wettbewerb im Wandel, Baden-Baden, S. 149-166.
[13] Judith Shklar zitiert nach Florian Werner, Zum Niedergang des Wortes „Freiheit“, https://www.deutschlandfunk.de/begriffskritik-zum-niedergang-des-wortes-freiheit.691.de.html?dram:article_id=449671. (24.01.2020)
[14] Stefan Weidner, Liberalismus: Unsere Freiheit von außen gesehen, https://www.deutschlandfunk.de/liberalismus-unsere-freiheit-von-aussen-gesehen.1184.de.html?dram:article_id=435837. (25.01.20)
[15] Gregor Wiedemann, Matthias Lemke, Andreas Niekler, Postdemokratie und Neoliberalismus – Zur Nutzung neoliberaler Argumentationen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-2011. In: Zeitschrift für politische Theorie Heft 1/2013, S. 80-96, hier S. 92. Vgl. dort auch das Folgende.
[16] Wikipedia „Neoliberalismus“, https://de.wikipedia.org/wiki/Neoliberalismus. (05.11.19). Hier weitere Quellenhinweise.
[17] Dieser Verdacht besteht z.B. bei VW, https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/volkswagen-zu-hohe-betriebsratsgehaelter-neue-anklagen-gegen-vw-manager/25180458.html?ticket=ST-59571513-FhbW70t5fwrUloATIYbz-ap3.
[18] Viel mehr und viel tiefer dazu Rainer Elschen, Was steuert die Gesamtbanksteuerer? – Gedanken zur Güte der Vorstandsvergütung. In: Stefan Kirmße, Andreas Rinker, Olaf Scheer, Patrick Tegeder (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungslinien in der Finanzwirtschaft. Frankfurt am Main 2017, S.965-993.
[19] Vgl. dazu Burrhus Frederich Skinner, Jenseits von Freiheit und Würde, Hamburg 1982.
[20] Vgl. Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. 9.Auflf. München 2019, S. 505. (Hervorhebungen von R.E.)
[21] Die Heisenbergsche Unschärferelation beschreibt etwas anderes speziell für den Mikrokosmos. Hier nehmen Messung und Messgeräte Einfluss auf das Ergebnis. Etwas Vergleichbares gibt es etwa in der Psychologie, wenn die Probanden in einem Experiment eher auf die Reize der Psychologin reagieren als auf die von ihr eingesetzten psychologischen Reize im Experiment. Dann kommt es zu „Artefakten“. Der Verfasser hat hier einschlägige Erfahrungen als Proband.
[22] Vgl. Die Gedanken sind frei, https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Gedanken_sind_frei. (12.08.2020)
[23] Vgl. etwa Lisa Herzog, Freiheit gehört nicht nur den Reichen, Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus, 2. Auflage München 2018, S. 26-64, wo sie ein ganzes Kapitel II. dem „homo oeconomicus“ widmet
[24] Jens Hacke, Liberalismus – Befreit die Freiheit!, https://www.zeit.de/kultur/2019-05/liberalismus-ideologie-kapitalismus-freiheit-ethik-politik.
[25] So etwa bei Jochen, Ott, Mehr Politik wagen! Wie wir die Demokratie vor dem Kapitalismus retten, Köln 2019, S. 28f., wo es munter durcheinander geht: Unter der „neoliberalen Wende“ wird von „Wirtschaftsliberalismus“ und von „libertärer Lesart“ gesprochen, obwohl es hier zum Teil gravierende Unterschiede gibt.
[26] Yuval Noah Harari, HOMO DEUS – Eine Geschichte von Morgen, München 2017, 9. Auflage 2019 (Paperback), S. 330f.
[27] René Rhinow, Ökologie gehört zum Freisinn, https://www.nzz.ch/meinung/oekologie-gehoert-zum-freisinn-ld.1523186. (08.01.20)
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