Leon Neschle 1 (8. Woche 2007)

Bachelor und Master: Gesellen und Meister für die akademischen Zünfte

Wenn man im Mittelpunkt einer Party stehen will, darf man nicht hingehen. (Audrey Hepburn)

Das ist der akademische Trend: Weg vom Diplom, hin zu Geselle und Meister. Die Gesellen und Meister kommen aus Bologna, dem großen Bruder von Pisa, sprechen sich aber englisch aus: „Bachelor and Master“.

Früher wurden Fach- und Gesamthochschulen von den Universitäten belächelt. In den universitären Verein, den Fakultätentag, wurden sie nicht aufgenommen. Heute machen die Universitäten dasselbe wie die Fachhochschulen, wollen es nur nicht so aussehen lassen: Sie bieten Kurzzeitstudiengänge für Bache-Loren und -Lorenze an oder muten sie zu, wie früher die Fach- und Gesamthochschulen.

Der Unterschied zur Gesamthochschule: Nun sind die Abschlüsse „konsekutiv“, nicht „alternativ“, stehen also hintereinander: Meister folgt auf Geselle; manchmal Master of Business Administration auf Bachelor of Design. So wie im Handwerk der Friseurmeister manchmal auf den Abschluss als Maurergeselle folgt! Oder? Da ist an den Hochschulen jetzt fast alles möglich. Bei der Gesamthochschule war es damals noch das Y-Modell: Nach gemeinsamer „Grundschulung“ verzweigte sich das Modell in einen längeren, theoriebezogenen Universitätsabschluss und einen kürzeren, praxisbezogenen Fachhochschulabschluss. In gewissem Sinne ist jetzt alles „Gesamthochschule“: Jeder tut alles, was er kann, auch ohne alles zu können, was er tut.

Manche Fachhochschulen verleugnen mit dem Segen der Ministerien neuerdings ihr „Fachdasein“, indem sie die Vorsilbe „Fach“ streichen. So etwa die „Hochschule Niederrhein“ aus der Seidenstadt Krefeld, obwohl sie dadurch manchem eher „halbseiden“ daherkommt.. Gerade einstige „Fachhochschulen“ machen derzeit viel Wind mit ihrem kurzen Hemd. Seit auch sie den Master blastern[1], lassen sie sich noch viel gerner University of Applied Sciences als „Hochschule“ nennen.

Die Transparenz des Bildungsmarktes nimmt allerdings dadurch nicht zu, wenn künftig fast jede Bildungsinstitution „Geselle“ und „Meister“ auf ihr Zertifikat schreibt. Denn dahinter verbergen sich ganz unterschiedliche Inhalte und Qualitäten. Dennoch wird diese Verwässerung und Verzerrung der Qualitätssignale als „Intensivierung des Bildungswettbewerbs“ gefeiert. Als ob die Verdunkelung von Markttransparenz je dem Wettbewerb förderlich war!

Wie aber kam es zu dieser Verdunkelung? Schauen wir etwas näher hin und holen dazu etwas aus, um am Ende mehr herauszuholen!

A. Education by Jeans und der Schafsinn deutscher Manager.

Es ist erstaunlich, wie viele Bildungsexperten die deutsche Wirtschaft im Top-Management hat. Jeder Manager oder Politiker, der nicht in der Lage ist, seinen Job vernünftig zu machen, weiß einen Bereich, wo es noch schlechter ist: die Hochschul(aus)bildung. Mit dem Finger auf den Macken der Universität kann man von sich selbst und seinem horrenden Gehalt ablenken. Wie soll das Management auch erfolgreich sein, wenn von den staatlichen Hochschulen nur Nieten kommen? Staatliche Hochschulen machen nur noch Education by Jeans. Und das schafft die Nieten in Hosen und Röcken, die heute unseren Managementnachwuchs ausmachen?

Die deutsche Wirtschaft glaubt jedenfalls nicht mehr, das staatliche Hochschulsystem könne sie mit guten oder hinreichenden Managementqualitäten beliefern, obwohl dadurch das Wirtschaftswunder nach dem Krieg nicht verhindert werden konnte. Es muss daher anders werden! Die Top-Manager nehmen nun selbst die Nachwuchsausbildung in die Hand und leisten ganz nebenbei das, was die Professoren hauptberuflich jahrzehntelang nicht geschafft haben.

Deutsche Firmen gründen gemeinsam oder allein „Universitäten“[2] in Berlin oder Wolfsburg mit Schwerpunkt Betriebswirtschaftslehre. Von Unternehmen beeinflusste private Hochschulen und Fachhochschulen schaffen mit Unterstützung der Unternehmungen Studienplätze außerhalb des staatlichen Universitäts- und Fachhochschulsystems: in Witten-Herdecke, Oestrich-Winkel oder in Vallendar (Koblenz), ebenfalls vorzugsweise mit betriebswirtschaftlichem Schwerpunkt.

Der Maßstab liegt dafür jenseits des Teichs. Das US-amerikanische System ist das „internationale“ Vorbild. Diesem Leithammel rennt man mit Schafsinn hinterher, statt mit Scharfsinn zu erkennen, dass es ein arger Leidhammel sein könnte.

In den USA sprechen derweil die Nachrichten ebenso oft von Bildungskrise wie hierzulande. Deutsche Manager und Politiker überhören das. Sie verwechseln die Klasse amerikanischer Ausnahmeuniversitäten, die von enormen Finanzmitteln und vom Import herausragender ausländischer Wissenschaftler und Studenten profitieren[3], und die bescheidene Qualität der amerikanischen Durchschnittsuniversität. Übersieht man zudem den US-Provinzialismus[4], setzt ihn gar mit „Internationalität“ gleich, so sind das Vorbild „US-System“ und die Angleichung daran die logische Folge.

Wer aber falsche Informationen mit Logik verarbeitet, hat schon immer Mist produziert. „Garbage in, garbage out!“ sagt man in der Computersprache. Schließlich kann man auch bei bester Verarbeitung aus faulen Eiern kein genießbares Omelett machen und schon gar kein gutes.

Private Hochschulen verfallen der Tendenz zur Amerikanisierung stärker als öffentliche. Lange haben sie auf die Übernahme dieses Hochschulsystems geschielt, weil sie in ihrer enormen Weltläufigkeit jede amerikanische Universität für Harvard hielten, jede britische für Cambridge. Im Bologna-Prozess wurde dann ganz ohne Anwalt das Todesurteil über das deutsche Diplom gesprochen: Deutsche Unis sind dumm und ihre Dummheit ist gleichverteilt. Angelsächsische sind schlau und haben sogar Elite-Spitzen. Deshalb kupfert man ab, was man dort vorzufinden meint (das ist beileibe nicht dasselbe, was man dort tatsächlich vorfindet), schreibt es allen Hochschulen vor und nennt das Stärkung der Freiheit der Wissenschaft.

B. Hier werden Sie ein- und ausgebildet, doch nicht geholfen.

Deutschland leidet an chronischem Waschzwang, wenn es sauber ist, und es bewirft sich noch mit Dreck, wenn es schon schmutzelt. Mit Dreck bewirft man derzeit das Diplom, einen vormals nicht nur beim Diplom-Ingenieur hochgelobten Abschluss. Man wirft es fort statt es aufzupeppen und sich damit an die Spitze zu setzen. Und man übernimmt mit den akademischen „Gesellen und Meistern“ das abgelaschte und verwaschene Profil einer gespaltenen und zerfransten angelsächsischen Hochschullandschaft.

Diese Übernahme der angelsächsischen Studienform wird ihre Problematik hierzulande bald zeigen. Eines ist schon heute sichtbar. Das deutsche Diplom war einst ein Markenartikel unverwechselbarer Qualität. Es war ein Etikett auf einem Produkt, das alle Universitäten in beinahe gleicher Form lieferten. Das hat man aufgegeben.

Internationale akademische Gesellen und Meister werden nun in der ganzen Welt (von Südafrika bis Australien, von Finnland bis Polen) nach jeweils landesüblichen Kriterien und Qualitätsstandards gefertigt; auch in Deutschland künftig an allen Universitäten und Fachhochschulen. Nicht nur, sondern auch deshalb sind Gesamthochschulen heute verzichtbar. Wer aber glaubt wirklich, dass sich hinter dem weltweit gleichen Etikett auch vergleichbare Inhalte verbergen? Dazu muss man schon mit dem Klammerbeutel gepudert sein!

Dabei hat man es ahnen können. Denn Mogelpackungen mit dem Etikett „Bachelor“ oder „Master“ gibt es schon seit Jahren und zuhauf. Gerade aus dem Land, das für die Freunde des akademischen Gesellen- und Meisterbriefs das Vorbild ist. Durchschnittliche deutsche Studenten fuhren nach dem vierten Semester in die USA und kehrten nach zwei Semestern mit dem Mastertitel und häufig als „Best in Class“ zurück. Dann büffelten sie noch semesterlang bis zum Diplom. Sie konnten sich zwar mit einem amerikanischen Mastertitel schmücken, doch der war ihnen weniger wert als das deutsche Diplom. Diese Zeit ist nun vorbei, weil es das einst höherwertige Diplom nicht mehr gibt.

Manager und Politik gaukeln uns derweil das Gegenteil vor: Der internationale Mastertitel sei wertvoller als das deutsche Diplom. Da hat man den Blick auf dem extrem gespaltenen amerikanischen Bildungsmarkt offenbar auf die wenigen Elite-Universitäten geheftet, die weltweit nur Elite-Studenten rekrutieren. Man misst sich an diesen Universitäten, ohne die völlig anderen Voraussetzungen finanzieller und sonstiger Art an deutschen Universitäten zu beachten. Daher kopiert man bestenfalls die Bedingungen der amerikanischen Durchschnittsuniversität und betrachtet es trotzdem als Aufbruch in eine neue Dimension.

Das ist es auch! Es ist so, als gäbe man das Reinheitsgebot für deutsches Bier auf, um sich internationalen Standards anzugleichen, und behauptete, man habe damit viel für die Qualität des deutschen Bieres getan. Mag ja sein, dass einige internationale Brauer mit erlesensten Zutaten aus den besten Anbaugebieten der Welt ein besseres Bier brauen als die deutschen Durchschnittsbrauerei. Doch zugleich stellt man sich so auf eine Stufe mit jedem beliebigen Gesöff, das es dort eben auch und viel häufiger gibt.

Da hilft nur noch die laufende Verkostung, um bei der Qualität auf dem Laufenden zu bleiben. Ranking und Rating von Hochschulen werden daher künftig eine dominierende Rolle spielen. Rating und Ranking gehen hierzulande aber zumeist so vor: Um etwa die Leistung in der Lehre zu beurteilen, stellt man ab auf die Qualität des durchschnittlichen Absolventen. Auf dieser Basis werden dann „leistungsgerecht“ die Finanzmittel für die Hochschulen verteilt! Ist doch fair? Oder?

Bei fast allen Ratings der Lehre liegt dieser Gedanke zugrunde. – Apropos „zugrunde“! Zugrunde richtet er unser Hochschulsystem, denn er beruht auf einem fundamentalen Denkfehler: Kann man die Qualität einer Hochschulausbildung und die Leistung der Hochschule sinnvoll messen ohne Rücksicht auf Vorkenntnisse und Studentenzahl? Ein Beispiel aus der Praxis:

Einer privaten Hochschule wurden die Fremdsprachenkenntnisse ihrer Absolventen als eigene(!) Qualität zugerechnet. Diese Kenntnisse waren jedoch wichtigstes Zugangskriterium. Die Studenten brachten die Fähigkeiten bereits mit. Da schmückte man die Universität mit den fremden Federn anderer Bildungsinstitutionen.

Und die Zahl der Studierenden? Spielte sie keine Rolle, leistete die Hochschule die beste Arbeit, in der alle Professoren ganz intensiv einen einzigen ausgewählten Studenten elite-ausbilden. Mit dessen selbst genügenden Leistungs-Durchschnitt katapultieren sie ihre Alma Mater so an die Spitze jeden Rankings. Die Professoren haben scheinbar(!) am meisten geleistet, weil dieser eine Student ausgehend von einer hohen Vorqualifikation die höchste „durchschnittliche“ Endqualifikation erreichte.

Seine Fakultät bekommt nun mehr Finanzmittel, nicht jedoch die Fakultäten, die Massen minderbegabter Studierender viel höher heben als es die Massen an Professoren mit ihrem einen auserwählten Elite-Studenten tun. Das ist in etwa so:

Zwei Vereine treten zum Hochsprungwettbewerb an. Gewonnen hat der Verein, dessen Springer im Durchschnitt die höchste Höhe erreichen. Der erste Verein reist mit einer Vielzahl von Trainern an, aber nur mit einem einzigen, gut ausgewählten Springer. Der hat schon bei früheren Meisterschaften geglänzt. Die vielen Trainer haben es aber geschafft, dass er noch zehn Zentimeter höher springt.

Der zweite Verein hat nur halb so viele Trainer und tritt mit tausend Springern an. Nach intensivem Training springen alle dreißig Zentimeter höher, im Durchschnitt (!) aber zu niedrig, um den ausgewählten Elite-Springer des ersten Teams zu schlagen. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass mehrere der tausend Studenten den einen Elite-Springer besiegen[5]. Der streng selektierte Elite-Springer könnte wahrscheinlich sogar den hundertsten Platz erreichen und würde immer noch den Durchschnittsspringer des zweiten Teams schlagen. Das ist das entscheidende Kriterium. Das Ergebnis ist daher gleichwohl: Verloren hat die zweite Mannschaft und deren Trainer. Die Sportförderung wird hier gekürzt, die Mittel fließen dem ersten Team zu. Im Klartext:

Weniger Professoren können einen höheren Bildungsmehrwert an viel mehr Studenten generieren als viele Professoren an wenigen Studenten. Gemessen wird allein das durchschnittliche Gesamtergebnis. Das kann bei den wenigen Studenten höher liegen, obwohl mehr Studenten aus dem Kreis der vielen über dem Durchschnittswert liegen. Es ist auch klar, wie man hier nach oben kommt: Strikte Vorauswahl der Studierenden, im Zweifel weniger als mehr! Für die Professoren und ist das schön. Sie bekommen auch die Vorleistungen ihrer Studenten als eigene Leistung zugerechnet. Aber hat schon einmal jemand die gesellschaftlichen Wirkungen zu Ende gedacht? –

So und nicht anders geht das bei der Mittelverteilung nach dem Rating. Wer hat sich das geleistet? Dreimal darf man raten! Bei dem, was Rater hier raten (sprich: „Räter hier räten“), ist man bei uns jedenfalls nicht gut beraten. Denn die Eigen-Leistung der Universitäten liegt nicht im Endergebnis eines Durchschnitts-Studenten, der bereits auf höchstem Niveau in die Universität eingetreten ist. Sie liegt im Mehrwert, den die Ausbildung über alle Studierenden hinweg schafft! –

In Deutschland fertigen neben Universitäten nun auch die Fachhochschulen die Abschlüsse mit Einheitsetikett, aber verschiedenen Inhalten und Qualitäten. Die Studiengänge werden akkreditiert nach einer formalen und strukturellen Prüfung, Inhalte lassen sich jedoch nach wie vor fast beliebig gestalten. Das senkt die Markttransparenz im Bildungsmarkt und steigert zugleich den Bürokratismus.

Und im angelsächsischen Ausland ist man mit der Anerkennung der „geklauten Titel“ zurückhaltend, bei denen nun Deutsche, Italiener oder Polen angeblich nach der Originalrezeptur von Harvard – doch mit ganz anderen Inhaltsstoffen und anderer Verarbeitung – eine für die Originatoren nicht mehr einsehbare Qualitätskontrolle ausüben.

Jedes Franchise-System würde Franchise-Nehmer herauswerfen, die sich nicht an die Regeln des Systems halten und undurchsichtige Qualitäten liefern. Wer bei McDonalds die Klöpse nicht strikt nach der Norm fertigt, fliegt raus und darf den Namen nicht mehr führen. Bei Klöpsen im Hochschulsystem gibt es diese Möglichkeit nicht. Da firmiert alles weiter unter denselben Namen. Da heißen ganz unterschiedliche Klöpse „Gesellenklöpse“ und „Meisterklöpse“. Also scheint Skepsis angebracht!

Was würden wir denn tun, hätte man in den USA das deutsche Diplom für sich reklamiert? Vertrauensbedingt gibt es immer einen „Home Bias“. Den hat Agatha Christie in der Zeugin der Anklage beschrieben: Die einzige Aussage zu seinen Gunsten (des englischen Angeklagten) könnte von seiner (deutschen) Frau kommen – und wer wird schon einer Ehefrau glauben. Dazu ist sie noch eine Ausländerin. Neun der zwölf Geschworenen glauben von vornherein, dass jeder Ausländer ein Lügner ist. Ich füge hinzu: Vor allem, wenn er stiehlt und seien es Titelbezeichnungen!

Wer kennt bislang die wenigen Bachelor oder Master aus Deutschland? Selbst wenn die neuen „Gesellen und Meister“ hierzulande besser ausgebildet wären als die englischen oder amerikanischen: Die Titelträger eines Bachelor- oder Mastergrades von einer deutschen Hochschule müssen sicher noch Jahre angelsächsischem Argwohn trotzen. Denn kein Champagner würde sich Perlwein nennen. Umgekehrt schon!

C. Kann falsches richtig sein? Private und öffentliche Hochschulen.

Aber halt: Da sind doch künftig deutsche Elite-Universitäten! Selbst wird es weder vergleichbare finanzielle Bedingungen geben noch ein vergleichbares Umfeld wie an den Elite-Universitäten der USA. An amerikanischen Universitäten sind die Hochschullehrer von Verwaltungsarbeit entlastet. Sie können sich auf ihre Kernkompetenz „Forschung und Lehre“ konzentrieren. Die Verwaltungsarbeit deutscher Hochschullehrer steigt derweil noch an. Dass hierzu dennoch die Begleitmusik der Entbürokratisierung gespielt wird, verwundert nicht. Bei einer vorherigen Kampagne zur leistungsorientierten Bezahlung der Hochschullehrer hat man die Entgelte für die Korrektur von Klausuren, Diplomarbeiten, Dissertationen und mündlichen Prüfungen ersatzlos gestrichen. Danach bekamen alle Professoren unabhängig von ihrer Prüfungsleistung dasselbe. – Verstanden? Nicht? Dann sind Sie gesund!

Man kann daraus sogar den Schluss ziehen: Es wird immer das Gegenteil von dem getan, was man ankündigt. Und es wird vorausgesetzt, dass alle das verstehen. So auch beim Bürokratieabbau. Der hätte nur eine Chance, würde sich die Hochschulpolitik den Bürokratieausbau auf die Fahnen schreiben. Mittlerweile mutet man den Hochschullehrern sogar zu, die eigene Verwaltung zu verwalten, etwa die Gleitarbeitszeit ihrer Sekretärin. Das haben sie informal zwar schon früher getan, heute aber sollen sie zusätzlich schriftliche Verträge abfassen und die Zeitguthaben oder –defizite für die zentrale Hochschulverwaltung nachvollziehbar festhalten und schriftlich bestätigen. Wohlgemerkt: Sachlich ändert sich dadurch nichts!

Ob man es glaubt oder nicht: Das ist die direkte Folge der „Entbürokratisierung“ der Hochschulen. „Entbürokratisierung“ Marke öffentliche Universität ist, wenn man die Zentralverwaltung entlastet und deren Aufgaben an Fachbereiche und Hochschullehrer überträgt, ohne denen mehr Personal zu geben. Dann braucht die Zentralverwaltung selbst wieder Personal, um die Einhaltung aller Vorgaben für die dezentrale Verwaltung zu überwachen. Tatsächlich ist das Dezentralisierung der Verwaltungs-Arbeit mit Bürokratieausweitung, um die Kontrolle der zentralen Verwaltung zu erhalten. Mit Dezentralisierung, die Flexibilität erhöht, hat das nichts zu tun. Ernüchternde Erkenntnis: Die öffentliche Hochschule dient der Verwaltung, nicht die Verwaltung der Hochschule. Das ist bei den privaten Hochschulen zum Glück ein wenig anders.

Für die Richtigkeit einer hochschulpolitischen Neuausrichtung scheint zu sprechen, dass private Hochschulen in jüngster Zeit bei fast allen Rankings und Ratings von Hochschulausbildung beim Durchschnittsstudenten im Ergebnis vor den staatlichen Hochschulen liegen[6]. Bilden sich hier die Elitehochschulen heraus, die nun auch bei öffentlichen Universitäten gefordert werden? Die vom Staat dazu bereitgestellten finanziellen Mittel sind selbst in „Exzellenzinitiativen“ Rinnsale im Vergleich zu den Finanzströmen, die sich über Harvard & Co ergießen. Auch fehlt es vor allem den öffentlichen Universitäten hierzulande an der Unterstützung durch finanzstarke Alumnis.

Während amerikanische Forscher forschen und amerikanische Lehrer lehren, ersticken selbst die forschesten deutschen Professoren in einem Wust von Bürokratie. Keine amerikanische Universität, die etwas auf sich hält – das sind dort alle, selbst wenn das von außen nicht geteilt wird – würde sich derartigen Akkreditierungsverfahren unterwerfen, wie sie hierzulande zur ohnehin überbordenden Bürokratie hinzukommen. Jedenfalls nicht Harvard! Das ist überzeugt davon, dass die anderen von ihm lernen können und nicht es von anderen. Im Wettbewerb wird sich die Qualität beweisen, nicht in einer bürokratischen Akkreditierung.

Bei den regulierungswütigen Deutschen wird ein aufwendiges Akkreditierungsverfahren zwischengeschaltet. Erst wenn ein Studiengang die Akkreditierungsagentur passiert, gibt es die Zulassung, mit der trotz hohen Bürokratieaufwands inflationär umgegangen wird. Das haut auf die Innovationsbremse, weil es Zeit und Originalität frisst im vorauseilenden Gehorsam auf die Agentur-Kriterien. Es nimmt manchem Beteiligten die Restwürde und Restfreiheit als Wissenschaftler, gibt ihm den Rest und Frust. Denn die Frage „Wer akkreditiert den Akkrediteur?“ wird nur selten gestellt. (Und Neschle hat sie gesehen: solche Akkrediteure. Er war sogar selber mal einer. Aber vor der großen Zwangs-Welle als eine Uni das freiwillig wollte!). Richtungsweisende Entwicklungen scheitern daher heute manchmal an kleinlichen Vorbehalten mittelmäßiger Akkrediteure, die missgeleiteten Richtlinien mehr trauen als dem Sach-Verstand der von ihnen aus- oder auch hin-gerichteten Fakultäten.

Vor allem der Mastertitel leidet dabei. Im Freizeit-Masterprogramm von einem oder zwei Jahren kann man neuerdings abends und am Wochenende auch Juristen oder Designern den Master of Business Administration zuschieben. Obwohl eigentlich für ein Masterprogramm gefordert, werden dabei einige Lehrveranstaltungen nicht auf dem Master-Niveau abgehalten. Wie denn auch, wenn diesen Master-Studenten selbst einfache ökonomische Grundkenntnisse fehlen? Man wird hier Meister ohne Gesellenprüfung im selben Fach. Und im Meisterkurs darf Gesellenwissen nicht mehr angeboten werden. Der Friseurmeisterkurs duldet keinen Grundkurs im Haareschneiden, selbst wenn ein Maurergeselle Friseurmeister werden will. Wie soll da die Qualität der Handwerksmeister gesichert sein, wenn sie ihr Grundhandwerk nicht verstehen? An deutschen Hochschulen ist das heute möglich geworden!

Studierende, die mit dem Segen der Akkreditierungsagenturen zum Masterstudium für Business Administration zugelassen werden, haben zum Teil nie etwas von Betriebswirtschaftslehre gehört. Zudem lässt sich bei ihnen eine größere Neigungsferne erkennen als bei Studenten, die direkt den BWL-Bachelor angehen. Das Ergebnis ist ein Witz, ein schlechter allerdings:

Trotz des höheren Titel Master of Business Administration fallen die ökonomischen Kenntnisse solcher Absolventen hinter die eines BWL-Bachelors zurück, häufig sogar hinter die Diplom-Zwischenprüfung nach vier Semestern BWL-Grundstudium. Übungen und Tutorien für Anfänger lassen sich nämlich auf Masterniveau nicht mehr argumentativ vertreten. Sie entsprechen nicht den „Richtlinien“! Im Masterstudium der Betriebswirtschaftslehre für „Exoten“ ohne BWL-Bachelor gibt es Fallstudien, ohne dass das theoretische Fundament steht.

Unterschiedliches wird künftig schamlos unter demselben Etikett vertrieben und sogar schwächeres Managementwissen unter dem höherwertigen Etikett. Der Schwindel ist perfekt und ereilt jeden, der sich in Master-Studiengänge vertieft. Die Personalabteilung muss demnächst Bildungsforschung betreiben und dafür ein eigenes Labor unterhalten. Die Abschlüsse können nicht mehr nach dem Etikett beurteilt werden. Wie wäre es da mit einer Aufnahmeprüfung für Bachelor und Master in den Unternehmungen? Die Prüfungsfragen könnte man ja aus dem Diplom nehmen!

Wer in diesem Ausbildungschaos private und öffentliche Hochschulen vergleicht, stellt sich am besten privates und öffentliches Fernsehen vor. Popularität und Schnelligkeit wird von privaten nicht selten der Solidität geopfert. Kurzfristiger Geschmackswandel dominiert Stabilität in Grundsatzfragen. Öffentliche nehmen sich die Privaten als Vorbild, während sie dort als abschreckendes Beispiel gelten. Öffentliche geben sich seriös und zu langweilig. Sie sind bürokratischer und langsamer.

In der Forschung stehen private Hochschulen in Deutschland allenfalls in ihrem eigenen Urteil vorn (Hier gibt es freilich große Unterschiede!). Forschung war dort bislang selten das Fundament ihrer Lehre. So lebten diese Hochschulen zum guten Teil von Forschungen staatlicher Hochschulen. Während sich aber die Lage der Forschung in den privaten Hochschulen verbessert, hat sie sich an den öffentlichen Hochschulen verschlechtert. Heute haben Professoren des Massenfachs Betriebswirtschaftslehre kaum noch Zeit für Forschung. Sie sind einzig als Berufsausbilder funktionalisiert: für akademische Gesellen und Meister. Kaum jemand in Politik und Öffentlichkeit denkt anders. Längst haben Politik und Wirtschaft den Universitäten die Aufgabe zugeordnet, höchste Ausbildungsinstanz für den Management-Nachwuchs zu sein.

D. Ausgebildet ist nicht gebildet. Gebildet ist nicht ausgebildet.

Öffentliche Universitäten betrachteten bislang Bildung und nicht auf aktuelle Berufstauglichkeit abzielende Ausbildung als Ziel der Lehre. Das Bestehen in der beruflichen Zukunft vor sich selbst war wichtiger als das unmittelbare Funktionieren im aktuellen betrieblichen System. Dies beschreibt universitäres Verständnis von Bildung im Vergleich zur Forderung der Wirtschaft, Universitäten als Endpunkte einer Aus- und Weiterbildung für Zwecke der Wirtschaft zu verstehen. Die Folge des gegenwärtigen Paradigmenwechsels: Von der eigenverantwortlichen Bildung der Universitäten geht es hin zu einer immer mehr vom Top-Management gesteuerten Ausbildung.

Die Vorstellungen der Manager sind aus der Sicht der Universitäten (zu) kurz-, allenfalls mittelfristig orientiert. „Kurzfristiges Funktionieren“ steht im Mittelpunkt, das was gerade auf den Nägeln brennt. Langfristige Überlegungen sind noch fremder geworden unter zunehmendem Einfluss amerikanischen Denkens. Standhaftigkeit und Verlässlichkeit sind schärferen und schnelleren Richtungswechseln gewichen. Nachhaltigkeit (Sustainability) wurde zwar zum Zauberwort, doch als Strohfeuer, nicht als nachhaltige Veränderung des Denkens.

Doch unsere Welt wandelt sich. Um in ihr zu bestehen, hilft die alleinige Funktionalität im Gegebenen auf Dauer wenig. Dennoch wird zugunsten unmittelbarer Funktionalität der Raum für Bildung aufgegeben, die eine nachhaltige persönliche Flexibilität zum Ziel hat. Eine solche Bildung erfordert auch das Eingehen auf nicht unmittelbar verwertbare Erkenntnisse, die das Grundverständnis verbessern. Wäre etwa in der damaligen DDR nicht strikt für das Funktionieren im eigenen System erzogen worden, hätte man sich nach der Wende manche Schulungsmaßnahme in Ostdeutschland ersparen können.

Im Wandel der Welt sind Flexibilität und souveräne Persönlichkeit gefragt, nicht das Funktionswissen, das mir gestern noch sofortige Berufsfähigkeit gab. Denn funktioniert der Mensch unter veränderten Bedingungen nicht mehr, wird er „entsorgt“.

In der Ausbildung ist der Mensch Mittel, Punkt. Erst eine Bildung, die ihm persönliche Souveränität und Flexibilität gibt, macht ihn zum Mittelpunkt. Hier hat die Universität die Verpflichtung sich zu wehren gegen eine Politik des kurzen und niedrigen Horizonts, zum Wohle der Menschen, der Gesellschaft und des nachhaltigen Wirtschaftens unserer Unternehmungen.

Manager kümmern sich mit ihrem Schafsinn vorwiegend um Massenströmungen. Spezielle Ausrichtungen werden ignoriert. Manager sind in keiner Weise belastet durch Kenntnisse über die Komplexität der Bildungsverwaltung mit einem Riesen-Kanon an Spezialisierungen und Prüfungsformen. Das lässt sie leicht und fertig organisatorische Probleme ignorieren, die ihre Vorschläge und Taten auslösen. –

Wie immer man jedoch zur Einmischung des Managements steht: Die Humboldtsche Universität ist am Massenphänomen gescheitert. Es ist etwas anderes, eine Bildungsinstitution für 5% eines Jahrgangs zu sein oder eine Ausbildungsinstitution für 50%. Dies zwingt zur Verschulung oder zu Alternativformen wie Abend- und Fernstudium. Wir können es uns als Gesellschaft nicht leisten, wenn Studentinnen in den kreativsten Jahren ihres Lebens für 5 Euro pro Stunde im Sonnenstudio jobben und Studenten Taxi fahren, ihre Studienzeit um 50% verlängern oder gänzlich scheitern. Das ist ein Verlust an Humanvermögen, den dieses rohstoffarme Land[7] auf Dauer nicht verkraftet. Selbst wenn man auf diese Weise Außenminister werden kann!

Nichts kann aber das eigenständige Denken ersetzen, auch nicht das stupide Nachempfinden amerikanischer Verhältnisse. Schafsinn und Herdentrieb sind eben nicht dasselbe wie Scharfsinn und Selbstdenken. Bis unsere Universitäten Harvard & Co mit deren eigenen Waffen schlagen können, vergehen sicher Jahrzehnte. Zu unterschiedlich sind allein die finanziellen Ausgangsbedingungen. Schon deshalb sollte man andere Waffen wählen.

Im Wettbewerb ist es kein guter Rat, die Konkurrenz nachzuahmen. Wie will man den überholen, in dessen Fußstapfen man tritt?. Auch im Wettbewerb der Hochschulen gilt: Anders denken als die Konkurrenten und Recht behalten. Oder heute so denken, wie die anderen erst morgen denken werden. Das sind die „Rezepte“! Sie bauen auf Scharfsinn und nicht auf den Schafsinn des Hinterherrennens. Dem Schafsinn folgen wir mit Leidbild Bachelor und Master, statt mit Scharfsinn das Leitbild Diplom zur „Spitze der Bewegung“ zu machen. Zu dieser Party hätte man eben nicht gehen sollen, um wirklich im Mittelpunkt stehen zu können!

Trotzdem gilt auch für das Kind im Brunnen:

Tu etwas, werde etwas! Nicht wegen, sondern trotz Geselle und Meister!

Nun hat das Land Geselle, Meister,

der Ami sagt uns, darauf ….er.

Wär’n mit „Diplom“ wir noch betitelt,

da hätt’ er nicht so viel gekrittelt.

Der Deutsche schießt ein Eigentor

(oder: Der Deutsche ist sein eigen’ Tor)

mit Master und mit Bachelor.


[1] Blast (engl.), heftiger Windstoß, Tuten. Aber auch: Pesthauch, Fluch, Brand und Verdorren.

[2] Universitas lebte einst von der Vielzahl der Fächer und Studiengänge und von dem Blick über den Tellerrand, den sie hungrigen Studenten ermöglichte. Heute nennt sich auch Singularitas Universitas. Welch ein Einfall! Welch eine Einfalt! Da ist das Studium Generale gar nicht möglich, das die staatlichen Hochschulen heute den Studenten sogar vorschreiben.

[3] Wie kann das eigentlich sein? Hätte man wirklich ein gutes Bildungssystem, müsste man nicht importieren, sondern würde exportieren: im großen Stil.

[4] Ein deutscher Student wird an einer US-Universität von Mitstudenten gefragt, ob es in Deutschland Linksverkehr gibt und ob Englisch nicht seine Muttersprache ist (Kein verstecktes Kompliment!). Mehr als achtzig Prozent der Kommilitonen sind in ihrem Leben nie weiter als hundert Meilen um ihren Geburtsort im amerikanischen Südstaat hinausgekommen. – Ein amerikanischer Rechtsprofessor wundert sich, dass eine Jury in der amerikanischen Form in Deutschland nicht existiert. Er fragt beim deutschen Studenten nach, was denn bei Todesurteilen gemacht werde.

[5] Ein Praxisbeispiel dazu: Vor etwa vier Jahren erregte ein Student der Universität Essen auf einem internationalen Absolventenkongress helles Erstaunen, als er durch eine überzeugende Lösung eines schwierigen und hochaktuellen Problems die versammelte Gemeinschaft der internationalen Elite-Studenten düpierte. Als er seine Alma Mater nannte, gab es ungläubige Blicke und laute Ausrufe. Man hatte erwartet, er werde den Namen einer amerikanischen, englischen oder französischen Elite-Schmiede nennen. Auf die Frage, wo er so etwas denn gelernt hätte, sagte er: „Bei meinem Professor in Essen!“ Der Student ist heute Vorstandsassistent eines großen internationalen Konzerns.

[6] Das gilt vor allem, wenn eigene Studenten befragt werden. Wer Geld für die Universitätsausbildung bezahlt, hat eine besondere Identifikation mit ihr. Elitebewusstsein und Corporate Identity machen den Rest. Man ist wer! Dagegen ist kein Hund zu einer solchen Nestbeschmutzung fähig wie die Studenten öffentlicher Hochschulen. Was für Hörsäle und Flure gilt, gilt auch für die Bereitschaft, verbalen Schmutz über die eigene Alma Mater auszugießen. So schießt man Eigentore gegen die Reputation des eigenen Abschlusses. So etwas passiert bei den Privaten niemals.

[7] Ein Ressource, die immer wichtiger wird, ist allerdings vorhanden: Wasser!

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Eine Antwort auf „Leon Neschle 1 (8. Woche 2007)“

  1. Hallo Neschle,

    dieses Essay ist genial! Gratulation! warum lesen das nicht unsere Politiker?

    Ich dachte ich fange mal mit dem ersten Essay an werdeaber weiter lesen!

    Das ist gegen den Strom, aber leider richtig!

    HAL 9000 irrt sich nicht!

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