Leon Neschle 78 (9. Woche 2013)

Rassismus gegen sich und andere

Unsere schiefe Weltsicht verdanken wir auch der Tatsache, dass die Presse regelmäßig über die Ausnahme berichtet, aber nur ausnahmsweise über die Regel. (Neschle)

Natürlich muss man diskriminieren! Wir können die Dinge doch nicht alle so lange als „gleich gültig“ betrachten, bis sie uns alle „gleichgültig“ sind. (Neschle)

Niemand hat je gezeigt, wie man eine einzige Stelle bei fünfzig Bewerbern ohne Diskriminierung besetzen kann. Dazu muss man diskriminieren. Doch nicht wegen angeborener oder ererbter Eigenschaften, also nicht wegen Rasse, Geschlecht, geschlechtlicher Orientierung, Nationalität, Religion oder kultureller Identität.

Für alle Formen solcher Diskriminierungen werden in diesem Blog die Begriffe „rassistisch“ und „Rassismus“ verwendet. In Anführungszeichen, wenn es über den engen Begriff hinausgeht. – Nicht präzise? Unwissenschaftlich? – Na und?! Dies ist kein wissenschaftlicher Beitrag, sondern die Äußerung einer Befindlichkeitsstörung.

Neschle kennt allerdings keinen zusammenfassenden Begriff für diese Eigenschaften.Und doch haben sie eines gemeinsam: Sie entspringen keinem selbst erarbeiteten Verdienst und keiner persönlichen Verfehlung. Deshalb kann ein Mensch dafür eigentlich weder Stolz noch Scham empfinden. Eigentlich! Denn er tut es trotzdem, wenn er „stolz“ ist, ein Türke zu sein oder sich als Deutscher dafür schämt!? Aus Neschles Sicht kann man zwar froh sein, ein Deutscher oder ein Türke, ein Mann oder eine Frau zu sein, aber „stolz“? Was hat man dafür getan?

Obwohl sie durch die Person nicht oder nur bedingt beeinflussbar sind, dienen diese Eigenschaften einigen Menschen dennoch dazu, andere vorzusortieren, vorzuverurteilen oder vorzuziehen, ohne Ansehen der Person. Diesen „Rassisten“ im weitesten Sinne sind sie der wichtigste Entscheidungsfilter in persönlichen Beziehungen und politischen Fragen. Das ist der Fall, in dem Diskriminierungsverbote zum Einsatz kommen (sollten).

Doch Diskriminierungsverbote diskriminieren auch. Den, der nicht (mehr) diskriminieren darf. Die Deutsche Witzregel sagt z.B.: Deutsche dürfen Witze über Deutsche machen. Ausländer dürfen Witze über Ausländer machen und über Deutsche. Männer dürfen Witze über Männer machen, aber nicht über Frauen. Frauen dürfen auch Witze über Männer machen, deutsche Frauen aber nicht über AusländerInnen.

Ergebnis: Ausländische Frauen dürfen in Deutschland alle Witze über alle und alles machen. Deutsche Männer dürfen nur Witze über sich selbst machen. – Das gilt aber nur für Witze und nur, soweit die deutsche Kultur die Leit- oder Leidkultur ist. Sonst kann es schon mal genau umgekehrt sein. Dann dürfen ausländischen Frauen nichts. Sie sind diskriminiert als Frauen und als Ausländerinnen. Mitten in Deutschland, doch keinesfalls nur von Deutschen! Doch eine Form „rassistischer“ Diskriminierung ist in Deutschland verbreiteter als irgendwo sonst auf der Welt: Der Deutsche diskriminiert mit Vorliebe sich selbst, d.h. seine Volksgenossen.

A. Der deutsche „Autorassismus“

Die Neigung des Deutschen, anderen Deutschen „Rassismus“ anzuhängen, ist überall in Deutschland augenfällig. Sie nimmt zu mit der Nähe von Geburtsdatum oder Geisteshaltung zu den Alt-68ern und mit der Öffentlichkeit der Äußerungen. Daher reiten die deutsche Presse und deutsche Politiker „dem Deutschen“ öffentlich in punkto „Rassismusvorwurf“ immer (noch) etwas vor.

Dieser „Autorassismus“ zeigt sich auch im gewöhnlichen Leben. „Da fahr ich doch nicht hin. Zu viele Deutsche“: Dieses Urlaubsbekenntnis ist Alt-68er-Standard. Da hinzufahren, wo schon andere Deutsche sind, macht für den Alt-68er nämlich den deutschen Spießer aus. Trifft er im Urlaub dennoch auf Deutsche, kann er deren Gesellschaft nie genießen, ohne sich seiner selbst zu schämen. Dabei entbehrt es nicht der Ironie, dass diese Haltung selbst ein Zeichen von Spießigkeit ist. Entgegen dem Selbstverständnis der Alt-68er ist sie zudem peinlich angepasst. Denn:

In Europa wird Selbstdiskriminierung und „Autorassismus“ vom Deutschen geradezu erwartet. Selbst arglose Kinder, Enkel und Urenkel der Kriegsgeneration werden dort auch heute immer noch(!) mit „ihrer“ Kriegsschuld und dem von „ihnen“ angerichteten Holocaust konfrontiert. Besonders gern von Briten, die daraus einen Teil ihrer nationalen Identität herleiten, weil sie „ganz allein“ (Nazi-)Deutschland besiegt und dem Spuk ein Ende gemacht haben.[1] In allabendlichen Kriegsklamauk-Serien wurde ihnen jahrelang das mit dem Bild vom Depp-Deutschen eingetrichtert, doch nicht einmal die „mildernden Umstände“, die das dem Dummdeutschen bringen müsste, gestehen sie zu. Im Gegenteil: Bei britischen Zeitungsartikeln zur Wahl des „deutschen Papstes“ hatte man sogar den Eindruck, Hitler selbst regiere von jetzt an in Rom.

Aber ist nicht der Brite, der einen jungen Deutschen an dessen Schuld und Verantwortung für das Nazi-Regime erinnert, letztlich „rassistischer“ als der von ihm angemahnte junge Deutsche? Doch wer sagt das den Briten? Der Deutsche selbst kann das nicht. Wer erzählt den Schweden, dass man ihrer „deutschen“ Königin nicht einfach ein Hakenkreuz anheften kann? Und wer mahnt die Griechen, Angela Merkel nicht mit dem Hakenkreuz zu behaken, denn das hat wirklich nichts mit ihrer Wirtschaftskrise zu tun? Einst haben Nazis damit jüdische Synagogen besudelt. Was will man ihr jetzt damit sagen? Und was kann der Deutsche antworten, wo der verbale Umgang mit Ausländern für ihn immer noch ein sprachlicher Eiertanz ist?

Am kompliziertesten ist dieser Tanz für die Gutmenschen. Für den „politisch korrekten“ Umgang mit „Ausländern“ haben sie in dumpfer Arg- und Ahnungslosigkeit den „Migrationshintergrund“ erfunden. Den wird ein „Ausländer“ selbst dann nicht mehr los, wenn er längst einen deutschen Pass hat. Richtig ist jedoch: Für einen Deutschen, der sich über Ausländer äußert, ist die Welt der Wörter und Worte voller Fettnäpfchen. Viele davon haben Deutsche selbst aufgestellt, Reiz- und Tabuwörter, Reiz- und Tabuthemen ausgelegt. Und entgegen aller Vernunft giltdabei: Was der Verdächtigte sagt, ist immer wichtiger, als was er tut oder getan hat.

Besonders brisant sind jedoch Äußerungen über Juden und Israel. Selbsternannte Späher des Rassismus achten darauf, dass kein Deutscher in die dafür ausgelegten Fettnäpfchen tritt. Argwohn reicht aber in jedem Fall schon und sie fallen kollektiv über den vermeintlichen Rassisten her und maßregeln ihn nach Strich und Faden.

Deutsche Politiker brauchen dafür nicht mal die Meinung der Betroffenen. Sie bleiben sogar bei ihrer Beschuldigung, wenn die Betroffenen abwinken, wie etwa Philipp Rösler, den angeblich sein Parteifreund Hahn rassistisch beleidigt hat (Aufschrei 63). Und sie freuen sich über Unterstützung von Ausländern und Migranten. Kein Wunder, dass SPD und Grüne im Fall Hahn Leute aus „ihrem Migrationshintergrund“ vorgeschickt haben. Die können nämlich vorgeben, den unmissverständlichen Satz Hahns doch missverstanden zu haben. Entschuldigt hat sich daher bislang niemand!

Ansonsten gilt für deutschen Rassimus immer die Vorgabe internationaler Rassismusexperten, vor allem beim Antisemitismus.[2] Jan Fleischhauer kommentiert das wie folgt:

„Wenn ein Antisemitismus-Experte behauptet, dass jeder zweite Deutsche ein Nazi sei, kommt nächste Woche Tuvia Tenenbom und erklärt acht von zehn dazu. Irgendwann ist man am Ende. Bei 100 Prozent gibt es keine Steigerung mehr, es sei denn, man buddelt noch welche aus und erweckt sie wieder zum Leben“.

Im selben Artikel fragt Jan Fleischhauer im Fall des als „Top-Ten Antisemit“ stigmatisierten Israel-Kritikers Jakob Augstein schon in der Überschrift:

„Was bringt ein renommiertes Institut wie das Simon-Wiesenthal-Zentrum dazu, einen SPIEGEL-ONLINE-Kolumnisten unter die zehn schlimmsten Antisemiten einzureihen?“[3].

Nicht nur diese Einschätzungen sind absurd, sondern auch die Tatsache, dass sich vor der Welt dafür faktisch eher die deutsche Öffentlichkeit und Jakob Augstein entschuldigen (müssen) als diejenigen, die solche Absurditäten in die Welt setzen. Deren eigener Sache (und der Sache aller vernunftbegabten Menschen!), den Rassismus in die Schranken zu weisen, nützen sie mit solch mutwilligen Anschuldigungen schon gar nicht. Denn danach können Rassisten so schlimm offenbar gar nicht sein, wenn sich der Augstein bei ihnen unter den „besten Zehn“ befindet. –

Unsere Presse hat sich derweil selbst verboten, bei Straftätern mit ausländischen Wurzeln deren Herkunft zu erwähnen. Bei deutschstämmigen Straftätern ist man dagegen nicht so zimperlich. Die Begründung[4]:

„Nach dem Pressekodex haben gerade Minderheiten Anspruch auf Schutz … . Der Titel „Türke schlägt Frau“ etwa ist dazu geneigt („geeignet“?), alle Türken als tendenziell gewalttätig darzustellen, weil die (deutsche) Mehrheit nach wissenschaftlicher Beobachtung vom einzelnen Fall gern auf den Rest der Gruppe schließt. Den Titel „Deutscher schlägt Frau“ würde es dagegen auch ohne Pressekodex kaum geben – das Deutschtum wäre ja hier keine Besonderheit, und dass sich Deutsche in der Folge selbst benachteiligen, ist mithin unwahrscheinlich“.

Mittlerweile gibt es aber Titel mit „Deutschen“ als Straftätern, und die Tatsache, dass sich Deutsche selbst benachteiligen, wird durch das Gutmenschentum hierzulande beinahe täglich belegt. Doch die Journalisten haben sich mit ihrem Pressekodex entschieden, ihren Landsleuten vorzugaukeln, Ausländer und Migranten seien auf keinen Fall (relativ) häufiger an Straftaten beteiligt als Deutsche.

Auch Neschle hat einmal geglaubt, mit diesem Pressekodex etwas gegen den Rassismus ausrichten zu können. Kommentare im Internet haben ihn belehrt und er fragt sich, wo die wissenschaftlichen Beobachter mit ihren Augen waren:

Bei jeder Straftat wird im Netz vom „gemeinen“ deutschen Volk nämlich mittlerweile verschwörerisch gemutmaßt, dass auf jeden Fall Ausländer dahinter stecken, gerade wenn und weil die Presse deren Herkunft nicht nennt. Aus dieser gutgemeinten Selbstbeschränkung der deutschen Presse folgert der hundsgemeine deutsche Leser: Die von der Presse gemeldeten Verbrechen werden in der Regel sämtlich von Ausländern begangen, außer wenn einmal ausdrücklich von einem deutschen Täter die Rede ist. Das ist im Internet mittlerweile und ironischerweise der „Tenor der Massen“. Sie wissen, dass sie von ihrer Presse „hinterhältig belogen“ werden, und genau das steigert ihren Argwohn über die realen Verhältnisse hinaus und es fördert Rassismus statt ihn zu bremsen.

Lügen haben eben kurze Beine, auch wenn sie im gutwilligen Verschweigen der Wahrheit liegen. Und wenn es nicht gerade um Straftäter geht, scheuen sich deutsche Journalisten ohnehin nicht unbedingt, sich rassistisch gegen „Personen mit Migrationshintergrund“ in Szene zu setzen. Mehr als “Unterschwelliger Rassismus“ ist das, was Hans-Hermann Kotte bei Spiegel-Redakteuren aufgedeckt hat, in Fragen an Philipp Rösler (Frankfurter Rundschau vom 11.2.2013), dessen „vietnamesischer Migrationshintergrund“ bekannt sein dürfte:

1. „Gab es bei Ihnen irgendwann den Wunsch, wie ein Deutscher auszusehen?“ –Liebe Spiegel-Redakteure: Wie sieht denn ein Deutscher aus? Wie einer der in der deutschen Nationalmannschaft Fußball spielt?

2. „Wenn Sie heute einen Film über den Vietnam-Krieg sehen, auf welcher Seite stehen Sie dann?“ – Liebe Spiegel-Redakteure: Rösler ist als Kleinkind da raus. Und es ging Nord- gegen Südvietnam, nicht Vietnam gegen die USA. Wie sollte Rösler denn bei seinen Überzeugungen auf der sozialistischen Seite des Nordens stehen?

3. „Wie kommt es, dass Neonazis im Osten Vietnamesen als ‚Fidschis‘ beschimpfen?“ – Liebe Spiegel-Redakteure: Warum soll Rösler Exegese für Idioten machen? Wolltet Ihr ihn quälen, weil FDP-Bashing „in“ und man dabei immer in der Mehrheit ist?!

4. „Sind Sie stolz, ein Deutscher zu sein?“ – Liebe Spiegel-Redakteure: Wie kann einer stolz auf etwas sein, was er nie geleistet hat, was ihm über Geburt oder Adoption zugeflogen ist?Man muss oder darf damit leben, Deutscher zu sein, man kann darüber froh oder traurig sein, aber man kann nicht stolz darauf sein, muss sich aber auch nicht dafür schämen.

In diesen Fragen steckt der schleichende Rassismus. In anonymen Kommentaren im Internet kommt dieser Rassismus gerade in Bezug auf Philipp Rösler besonders oft hoch. Das rassistische Vorurteil dominiert meist sogar die politische Äußerung. Ausgangspunkt sind gerade bekennende Anhänger von Parteien, die sich selbst für die Gralshüter des Anti-Rassismus halten.

B. Die Diskriminierung durch die anderen

Neschle hat genug über und gegen „Rassismus“ von Deutschen geschrieben. Doch es gibt ihn ja auch noch: den „Rassismus“ von Nichtdeutschen gegen Deutsche, aus dem Ausland und sogar in Deutschland selbst. Von Letzterem sei zunächst die Rede.

Da ist die kurdische Familie Ö., die kollektiv das eigene Kind ermordete, ihre Tochter Arzu. Ihr „Vergehen“ (Presseberichten zufolge): Sie hatte einen deutschen Freund. – Da kommt eine Familie nach Deutschland und betrachtet es als schlimm(st)e Eigenschaft eines Menschen, dass der „Deutscher“ ist. Oder wie soll man es werten, wenn gerade das den Freund der Tochter nicht heiratswürdig macht? – Der Anwalt des Vaters, der im Prozess einen Übersetzer brauchte, sagt dazu auch noch: Diese Familie aus Ost-Anatolien war „gut integriert“!?

Die Diskriminierung des deutschen Freundes in Deutschland: eine Ausnahme? Weit gefehlt, wenn auch selten mit diesen fatalen Folgen. Da ist z.B. der junge Mann mit türkischen Wurzeln, der Neschle unverblümt erklärte: Natürlich habe er deutsche Freundinnen gehabt. Heiraten werde er aber nur eine türkische Jungfrau.

Oder nehmen wir die türkische Studentin, die sagte, ihre Familie wolle, dass sie nur einen Türken heirate. Auf die Anspielung, sie könne ja noch auf einen Deutschen oder Syrer „hereinfallen“, sagte sie kategorisch: „Nur auf einen Türken mit einem deutschen Pass!“ – Selbst wenn es die Religion gewesen wäre, hätte es ja noch den Syrer gegeben. Sie aber machte allein die Nationalität zum Ausgangspunkt, ohne sich davon überraschen zu lassen, wenn es am Ende ein Türke gewesen wäre.

Was geht im Kopf eines Menschen vor, dessen wichtigstes Ausschlusskriterium für mehr oder weniger enge Kontakte mit anderen Menschen dessen Nationalität, Rasse oder Religion ist? Ex-ante, ohne den konkreten Menschen dazu kennen zu müssen! Neschle selbst käme das nie in den Sinn. Er würde seinen Töchtern nie die „moralische“ Verpflichtung auferlegen, nur einen Deutschen zu heiraten oder nur mit einer Deutschen eine Partnerschaft einzugehen.

Ist es dann am Ende tatsächlich ein Deutscher, gibt es natürlich nichts zu beanstanden. Das ist aber etwas anderes, als wenn Rasse, Nationalität oder Religion das erste und wichtigste Auswahl- und Ausschlusskriterium in persönlichen Umgang oder bei der Partnerwahl ist. Doch bei wem ist diese Haltung am stärksten ausgeprägt? Bei den Deutschen, die sich über „Rassismus“ in ihren eigenen Reihen wohl am meisten beklagen?! Neschle glaubt das nicht. –

Betrachten wir zum Schluss eine aktuelle Meldung zu türkischen Pflegekindern in der EU vom 21. Februar 2013, vor dem Besuch von Angela Merkel in der Türkei drei Tage später. Da heißt es zu Reaktionen der türkischen Öffentlichkeit und Regierung[5]:

„Tausende Kinder (etwa 4.000), die mit ihren Familien in der EU lebten, seien den Eltern weggenommen und an christliche Familien gegeben worden, wird beklagt. Den türkischen Jungen und Mädchen drohe Assimilation und der Verlust der eigenen Kultur. …

Was wäre denn, wenn die Pflegefamilie türkische Christen wären? Die soll es ja geben. Geht es hier um Religion oder um Kultur? Oder ist die Kultur in diesem Fall nur vorgeschoben? Bei der 19-jährigen Elif, die bei einer christlichen Pflegefamilie in Melle aufwuchs und in der Türkei als Musterbeispiel für den Kulturverlust fungiert, sah diese „Bedrohung durch Assimilation“ so aus:

„Offenbar auf eine Frage(!) hin versichert die Tochter (Elif), dass sie eine Moschee habe besuchen und Kopftücher tragen dürfen. ‚Ich find`s auch schade, wenn ich im Nachhinein drüber nachdenke‘, sagte sie aber vor türkischen Journalisten. ‚Ich spreche Türkisch nicht und ich habe meine Kultur irgendwo nicht ausleben können. Ich hätte es auch schöner gefunden, in einer türkischen Familie aufzuwachsen‘“.

Liebe Türken: Wer sich über andere beklagt, sollte bei sich mindestens dieselben Maßstäbe anlegen! Fragt Euch daher: Was würde geschehen, käme ein christliches Mädchen in der Türkei als Pflegekind in eine muslimische Familie? Dürfte sie in die Kirche gehen und kein Kopftuch tragen? Und könnte sie dann fließend deutsch? – Warum haben da sogar Neschles türkische Freunde Zweifel?

Und wer weiß, was Elif gesagt hätte, wäre sie in ihrer oder einer anderen türkischen Familie (muslimisch) aufgewachsen? Wir wissen es nicht und sie auch nicht. Aber in der Türkei von einem türkischen Journalisten befragt!? Da muss es klingen, als wäre es „irgendwo“ besser gewesen. Doch würdigt man die Ursache, warum Elif nicht in ihrer türkischen Familie aufwuchs, kann man zu einem anderen Schluss kommen. Das will man aber offenbar in der Türkei nicht wahrhaben:

„In Deutschland greifen Jugendämter üblicherweise ein, wenn Kindern oder Jugendlichen in ihrer Familie Gewalt angetan wird, Verwahrlosung droht oder Eltern wegen Krankheit nicht in der Lage sind, das Wohl der Kinder zu gewährleisten.“

Jugendämter in Deutschland schauen nach Neschles Erfahrungen grundsätzlich darauf, „passende“ Pflegefamilien zu finden. Dafür gibt es aber, außer dem Kriterium „türkisch“ oder „muslimisch“ zu sein noch eine Menge anderer Kriterien, die in Frage kommen, um das Bestmögliche für ein Kind zu erreichen. Dass „türkisch und muslimisch“ allein jedenfalls nicht reicht, zeigt schon Elifs Ausgangsfamilie. Und doch wird in der Türkei nun öffentlich das Bild gepflegt, die EU „assimiliere“ Türken zwangsweise durch Stehlen ihrer Kinder und deren christliche Umerziehung?!

Aber etwas stört die Türken noch weit mehr:

„Für Empörung sorgen in der Türkei Berichte über … Fälle, in denen türkische Kinder in der EU bei homosexuellen Paaren in Pflegschaft gegeben worden seien … . Türkische Familien wollen ihre Kinder nicht an schwule oder lesbische Paare geben“.

Unsere Welt besteht längst nicht mehr aus der „türkischen Idealfamilie“, die gedanklich hinter dieser Bemerkung steht, in der EU nicht und nicht in der Türkei. Angesichts der Massen alleinerziehender Mütter und Väter und mit Blick auf unsere veränderte Arbeitswelt kann Neschle zunächst einmal nichts Schlechtes dabei finden, wenn eine zweite Person hinzukommt, die Erziehungspflichten übernimmt.

Doch welche „moralischen“ Ansprüche werden da aus der Türkei an uns herangetragen?Wohlgemerkt: Nicht für die Türkei! Für Deutschland und die EU! Nach den jüngsten Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes sieht es so aus, als müssten die Türken uns damit sogar einen Verfassungsbruch zumuten.

Vielleicht bleiben einige Deutsche dann doch lieber „Rassisten“ in türkischen Augen, ehe sie hierzulande das Rad der leidigen Geschichte um die Diskriminierung Homosexueller zurückdrehen und wieder hinter unsere geänderten Moralvorstellungen zurückfallen, wo selbst die CSU nun wankt!?

Doch, liebe Türken, man ist gar kein Rassist, nur weil man kritisch gegenüber Äußerungen ist, die von (einem) Türken ausgesprochen wurden. Die könnten ja auch von jemandem anders stammen, wo man ebenso reagieren würde. Der Hirninhalt ist eben nicht angeboren. Da darf, ja muss man gelegentlich sogar diskriminieren und der Kopf ist bekanntlich rund, damit sich das Denken ändern kann.

Das ist etwas, das im Falle Augstein auch das Simon-Wiesenthal-Zentrum nicht verstanden hat. Jakob Augstein hat sich öfter kritisch zu Meinungen von Israelis bzw. Juden geäußert. Wenn es um deren Inhalt geht, könnten die kritisierten Meinungen aber auch von Deutschen, Türken oder Amerikanern stammen. Doch sie stammen nun mal tatsächlich von Israelis oder Juden.

Und jetzt ist die Sache ganz simpel: Jeder Spatz ist ein Vogel, aber nicht jeder Vogel ist ein Spatz. Nach derselben logischen Figur gilt: Jeder Antisemit kritisiert Juden (und Israel), aber nicht jeder, der sie kritisiert, ist Antisemit. Um das zu erkennen, muss man sich ein wenig mehr Mühe machen, liebes Simon-Wiesenthal-Zentrum!

Im rein deutschen Fall Hahn (Aufschrei 63) ist es aber noch schlimmer. Hier hätten die selbsternannten Rassismus-Späher nur den Satz konzentriert und richtig lesen und nicht fahrlässig oder gar böswillig „überlesen“ müssen. Schon gar keiner der Späher hat sich die Mühe gemacht, den Satz mit Hahns Taten als Integrationsminister zu vergleichen. Im Gegenteil: Statt sich selbst bei ihm zu entschuldigen, forderten sie Entschuldigung von Hahn. Für seinen Satz und ihr eigenes Unverständnis! Denn für seine Taten als Integrationsminister musste sich Hahn bislang noch nie entschuldigen. Das zeigt auch der Rückhalt, der ihm dann von „seinen Ausländern“ gewährt wurde.

Die deutsche „Bescheidenheit“

Erlernter „Anstand“ es so will,

ein Deutscher möge schweigen still,

wenn‘s um Rassismus and’rer geht,

weil er nicht viel davon versteht.

Die Nazis haben das gezeigt,

drum ist die Welt nicht mehr geneigt,

des Deutschen Urteil noch zu hören

und keiner tät‘ sich daran stören.

Ein Deutscher darf sich da nicht loben,

weil sonst die anderen alle toben,

und dennoch sag‘ ich’s, wie es ist:

Heut sind wir weniger Nazist

als viele andere drumherum.

Wer das nicht sieht, ist vielleicht dumm!?

Doch kritisch gebe ich auch zu,

es gibt noch zu viel NSU

und viele tumbe braune Recken,

die das deutsche Nest verdrecken.

Sie selbst, sie scheinen‘s nicht zu ahnen,

wenn sie „für (?) Deutschland“ schwenken Fahnen.

Doch gibt es überhaupt ein Land,

in dem Rassismus unbekannt?

In Deutschland, ja, da kennt man das,

in Österreich, da wird’s schon blass.

In der Türkei, in USA,

war hier schon je Rassismus da? ;-((

Dennoch:

Der gemeine Rassismus und der gemeine Deutsche

Wenn es um die Deutschen geht,

man das Rad gern rückwärts dreht,

so als wär’n die Brüder, Schwestern,

nicht von heute, sondern gestern:

Wie jung der Deutsche immer sei,

im Weltkrieg war er schon dabei.

Den Holocaust hat er verschuldet,

zumindest aber still geduldet. –

Natürlich ist Erinnerung Pflicht,

Schuldzuweisung ist es nicht,

wenn sie, in Sippenhaft vereint,

auch unschuldige Menschen meint.

Für die, und das ist kaum vermessen,

ist es auch recht, mal zu vergessen.

Wer ständig trägt der Väter Bürde,

verliert am Ende seine Würde.

Derweil will es auf dieser Erden,

mehr und mehr „rassistisch“ werden,

auch was ererbt und angeboren,

wird nun zum Maßstab auserkoren.

Ob Rasse, Nationalität,

Religion, Kultur-Identität,

dazu Geschlecht und wieder Rasse,

so bildet man die Menschenklasse.

„Rassisten“ sich hierin verrennen

Und lernen Menschen niemals kennen.

Doch sie beschließen damit dann,

wen, was man noch ertragen kann.

Den Balken vor den eig’nen Augen,

dazu scheint kein Rassist zu taugen,

zu sehen und dann zu entfernen.

Viel eher könnt’ er wohl erlernen,

wie man den Splitter bös erfasst,

der nur ins Auge andrer passt.

Drum lernt auch niemals ein Rassist,

was für ein Mensch er selber ist.

Und glaubt mir, mancher denkt sogar,

dass er noch niemals einer war:

Die andere „Rassisten“ nennen,

lernt man oft selbst als solche kennen.


[1] Vgl. dazu auch Peter Watson, The German Genius, London u.a. 2010, Introduction, S. 1 -38.

[2] Jan Fleischhauer, S.P.O.N. – Der Schwarze Kanal: Der Fall Augstein, vom 6. Januar 2013. URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/antisemitismus-debatte-der-fall-augstein-a-875976.html.

[3] Siehe Fußnote 2

[4] Vgl. Vorsicht, Vorurteile! Warum Medien die Herkunft von Straftätern selten nennen. URL: http://www.noz.de/artikel/47853431/warum-medien-die-herkunft-von-straftaetern-selten-nennen. (Ergänzung und Hervorhebung von Neschle)

[5] Carsten Hoffmann, Türkische Pflegekinder: „Assimiliert und entfremdet“. URL: http://nachrichten.t-online.de/tuerkische-pflegekinder-assimiliert-und-entfremdet-/id_62260722/index. (Ergänzungen und Hervorhebungen von Neschle)

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Eine Antwort auf „Leon Neschle 78 (9. Woche 2013)“

  1. Der neue Steinbrück-Sprecher Kleine reiht sich hier „prima“ in das ein, was Hans-Hermann Kotte bei den Spiegel-Redakteuren aufgedeckt hat (siehe Artikel). Dasselbe Ziel, dieselben rassistischen Anspielungen. Neschle findet so etwas zum Kotzen! Erst recht in einem öffentlichen Amt!

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