Leon Neschle 85

Die Erbsünden des LiberalismusEssay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 1

Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ (Immanuel Kant)

Der Liberalismus und sein Erbe als Folge des Zeitgeistes seiner Geburt

„Wählt der moderne Liberale nicht Grün?“, fragte mich ein Unternehmensgründer und FDP-Mitglied im Dezember 2018.[1] Neuere Umfragen geben ihm Recht. Denn in der Gunst der traditionell liberalen Unternehmensgründer ist die FDP von 37,6 (2018) auf 27,7% (2019) gefallen, die Grünen stiegen dagegen von 22,4 auf 43,6%[2].

Doch kann man liberal sein, wenn man eine „Verbotspartei“ wählt oder gar deren Mitglied ist? Kann man liberal sein und sich zur CDU, CSU oder SPD bekennen?[3] Vielleicht sogar zu den Linken oder zur AfD? 

Spätestens hier werden viele zweifeln. Denn schon bevor ihr Gründer Bernd Lucke und seine Anhänger sich von ihr trennten, hat sich die AfD von allem Liberalen gelöst, wurde von einer Partei „rebellischer Professoren“ zu einer populistischen „Anti-Elite Partei“. Heute gilt daher: „Als überzeugter Liberaler hält man … den größtmöglichen Abstand zur AfD“.[4]

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Leon Neschle 86

Die Erbsünden des LiberalismusEssay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 2

„Ein Liberaler schwärmt eher für den Fußball als Wettbewerbssystem, für seine Regeln und für überraschende Ergebnisse, als für den Sieg (s)einer Mannschaft“ (Neschle)

Die erste Erbsünde: Zu viel Verstand, zu wenig Leidenschaft

Der Ur-Liberalismus ist das Aufbegehren des menschlichen Verstandes. Er ist hirn-, nicht bauchgesteuert! Das merkt man Liberalen bis heute an, insbesondere bei ihrer mangelnden Bereitschaft zu kollektiver Leidenschaft: Das ist deren erste Erbsünde. Diese Erbsünde ist dem Liberalismus nicht von seinen Gegnern angelastet. Sie ist ihm in die Wiege gelegt.

Liberale erzeugen mehr Gefühle sozialer Zugehörigkeit und kollektiver Leidenschaft bei denen, die sich gegen sie wenden, als bei und unter sich. Ihnen fehlt es oft an „Seele“[1], sicher aber an „Fankultur“ und an einigenden Ritualen. Linke, Rechte und fundamental Religiöse haben die, z.B. in gemeinsamen Liedern, Handlungen oder einer kollektiven Sprache, bei der oft jede Abweichung von einer Sprachpolizei moralisierend diffamiert und sanktioniert wird[2]. Linke „Aktivisten“ bauen durch ihre Sprache sogar Distanz zu Menschen auf, für die sie sich angeblich einsetzen[3]:

„Die moderne Linke, jedenfalls in ihrem akademischen Teil, scheint vor allem mit der Frage beschäftigt, wie sie dafür sorgen kann, dass niemand vom rechten, also linken Weg abkommt. Ihre ganze Energie ist darauf gerichtet, dass die Menschen nicht das Falsche sagen. Oder die falschen Witze reißen. Oder die falschen Kostüme zu Halloween tragen.“[4]

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Leon Neschle 87

Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 3

„Wenn der Verstand gottgegeben ist, muss auch sein Einsatz gottgewollt sein“ (Neschle)

Die zweite Erbsünde: Menschenverstand statt Gottes Gebot

Die zweite Erbsünde liegt wie die erste in den Genen des Liberalismus. Sie wird den Liberalen jedoch nur von Seiten der Religionen vorgeworfen. Dennoch ist die Aus-einandersetzung damit nicht nur von religiösem oder historischem Wert. Sie bringt tiefe Einblicke in den Liberalismus, insbesondere zu der Frage, ob man sich durch den eigenen Verstand versklaven kann und sich so selbst die Freiheit nehmen kann, für die man eigentlich eintreten will.

Die Liberalen haben den menschlichen Verstand, kein göttliches Gebot zum Ausgangspunkt ihres Denkens gemacht. Die Freiburger Thesen der FDP[1] fordern in diesem Sinne „Fortschritt durch Vernunft“. Philosophien, die den Menschen und seine Vernunft und nicht Gott zum Ausgangspunkt ihres Denkens machen, ordnet Harari zwar dem „Humanismus“ zu, betrachtet sie aber als „Religionen“[2]:

„Die Grundüberzeugung humanistischer Religionen wie des Liberalismus, des Kommunismus und des Nationalsozialismus lautet, dass Homo sapiens über einen einzigartigen und heiligen Wesenskern verfügt, der Quell allen Sinns und aller Macht im Universum ist.“ 

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Leon Neschle 88

Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 4

„Wer die Freiheit anderer achtet, zeigt allein dadurch mehr soziale Verantwortung als die Befürworter totalitärer Systeme, denen individuelle Freiheit nichts gilt.“ (Neschle)

Die dritte Erbsünde: Egoismus statt soziale Verantwortung

Die dritte Erbsünde wird den Liberalen am häufigsten angelastet. Dennoch steckt sie nicht in den liberalen Genen. Sie findet sich aber in der libertären Mutation des Liberalismus. Libertäre verbergen sich (zu) oft als „Bekenntnisliberale“ hinter dem liberalen Etikett. Den Liberalen ist vorzuwerfen, dass sie nicht deutlich genug und nicht öffentlichkeitswirksam gegen diesen Etikettenschwindel vorgehen. 

So mancher Bekenntnisliberale glaubt, der Liberalismus lasse unbeschränkte Freiheit zu und völligen Egoismus des Einzelnen, ja fordere ihn sogar im Wirtschaftsliberalismus, ohne dass davon ein Schaden für die Gesellschaft ausgeht. Nach der Bienenfabel von Mandeville[1] werden durch den Zwang zu freiwilliger Einigung am Markt sogar private Laster zu öffentlichen Vorteilen. Auch der politische Abstimmungsprozess setzt den Individuen gesellschaftliche Schranken bei der Durchsetzung ihrer egoistischen Ziele.

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Leon Neschle 89

Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 5

„Der Markt kann gar kein Klimakiller sein, weil es ihn für freie Umweltgüter nicht gibt. Da hat er ein perfektes Alibi.“ (Neschle)

Die vierte Erbsünde: Umweltschmutz statt Umweltschutz

Hier gibt es keine Ausflüchte: Die vierte Erbsünde ist anders als die dritte den Liberalen nicht angedichtet, sie ist genetisch bedingt und kam mit der Geburt des Liberalismus. Ihre Quelle ist schlichte Unwissenheit.

Dem Liberalismus fehlt die Gnade der späten Geburt. In der vorindustriellen Zeit seiner Entstehung bestanden viele Bereiche der Umwelt im ökonomischen Denken aus „freien Gütern“, die kostenlos und in beliebiger Menge zur Verfügung standen. Das betraf nicht alle Teile der Umwelt: Für Grund und Boden oder Schürfrechte war damals schon ein Preis fällig und dort, wo man Wasser verknappen konnte, musste die Wasserzufuhr bezahlt werden. Luftverschmutzung spielte im vorindustriellen Zeitalter kaum eine Rolle, Wasserverschmutzung durch Schlachtabfälle oder Gerberei war ein lokales Problem und wurde, wenn das Wasser ungenießbar war, auch von Kindern mit dünnem Bier heruntergespült.

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