Leon Neschle 85-93: Vorbemerkung

Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden

„Freiheit ist ein Geschenk, das sich nicht jeder gern machen lässt“ (Thomas Willmann „Das finstere Tal“)

Vorbemerkung und Vorschau zum gesamten Essay (85-93)

Hat sich der Liberalismus mit dem Niedergang des Sozialismus in Osteuropa totgesiegt? Gibt es nicht weltweit mächtigen Aufwind für antiliberale Kräfte und den „Rückbau von Rechtstaatlichkeit, Meinungs- und Pressfreiheit“[1]? Sind „Autokratien auf dem Vormarsch“[2]: in Ungarn, Indien, Brasilien, Russland, China, in den USA des Donald Trump? Können wir sogar das Todesdatum des Liberalismus vorhersagen? 

Der Bestsellerautor Harari behauptet ja: Das ist der Tag, an dem „mich das System besser kennt als ich mich selbst“.[3] Mit „System“ meint er die Datenbanken von Google und Co. Dieser Tag des Untergangs sei nahe. Sehr gewiss und sehr nahe! 

Läge Harari richtig, wäre es unsinnig, diesen Artikel über Liberalismus noch zu schreiben oder ihn zu lesen. Doch Harari liegt falsch! Das aber werde ich an anderer Stelle belegen. 

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Leon Neschle 85

Die Erbsünden des LiberalismusEssay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 1

Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ (Immanuel Kant)

Der Liberalismus und sein Erbe als Folge des Zeitgeistes seiner Geburt

„Wählt der moderne Liberale nicht Grün?“, fragte mich ein Unternehmensgründer und FDP-Mitglied im Dezember 2018.[1] Neuere Umfragen geben ihm Recht. Denn in der Gunst der traditionell liberalen Unternehmensgründer ist die FDP von 37,6 (2018) auf 27,7% (2019) gefallen, die Grünen stiegen dagegen von 22,4 auf 43,6%[2].

Doch kann man liberal sein, wenn man eine „Verbotspartei“ wählt oder gar deren Mitglied ist? Kann man liberal sein und sich zur CDU, CSU oder SPD bekennen?[3] Vielleicht sogar zu den Linken oder zur AfD? 

Spätestens hier werden viele zweifeln. Denn schon bevor ihr Gründer Bernd Lucke und seine Anhänger sich von ihr trennten, hat sich die AfD von allem Liberalen gelöst, wurde von einer Partei „rebellischer Professoren“ zu einer populistischen „Anti-Elite Partei“. Heute gilt daher: „Als überzeugter Liberaler hält man … den größtmöglichen Abstand zur AfD“.[4]

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Leon Neschle 86

Die Erbsünden des LiberalismusEssay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 2

„Ein Liberaler schwärmt eher für den Fußball als Wettbewerbssystem, für seine Regeln und für überraschende Ergebnisse, als für den Sieg (s)einer Mannschaft“ (Neschle)

Die erste Erbsünde: Zu viel Verstand, zu wenig Leidenschaft

Der Ur-Liberalismus ist das Aufbegehren des menschlichen Verstandes. Er ist hirn-, nicht bauchgesteuert! Das merkt man Liberalen bis heute an, insbesondere bei ihrer mangelnden Bereitschaft zu kollektiver Leidenschaft: Das ist deren erste Erbsünde. Diese Erbsünde ist dem Liberalismus nicht von seinen Gegnern angelastet. Sie ist ihm in die Wiege gelegt.

Liberale erzeugen mehr Gefühle sozialer Zugehörigkeit und kollektiver Leidenschaft bei denen, die sich gegen sie wenden, als bei und unter sich. Ihnen fehlt es oft an „Seele“[1], sicher aber an „Fankultur“ und an einigenden Ritualen. Linke, Rechte und fundamental Religiöse haben die, z.B. in gemeinsamen Liedern, Handlungen oder einer kollektiven Sprache, bei der oft jede Abweichung von einer Sprachpolizei moralisierend diffamiert und sanktioniert wird[2]. Linke „Aktivisten“ bauen durch ihre Sprache sogar Distanz zu Menschen auf, für die sie sich angeblich einsetzen[3]:

„Die moderne Linke, jedenfalls in ihrem akademischen Teil, scheint vor allem mit der Frage beschäftigt, wie sie dafür sorgen kann, dass niemand vom rechten, also linken Weg abkommt. Ihre ganze Energie ist darauf gerichtet, dass die Menschen nicht das Falsche sagen. Oder die falschen Witze reißen. Oder die falschen Kostüme zu Halloween tragen.“[4]

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Leon Neschle 87

Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 3

„Wenn der Verstand gottgegeben ist, muss auch sein Einsatz gottgewollt sein“ (Neschle)

Die zweite Erbsünde: Menschenverstand statt Gottes Gebot

Die zweite Erbsünde liegt wie die erste in den Genen des Liberalismus. Sie wird den Liberalen jedoch nur von Seiten der Religionen vorgeworfen. Dennoch ist die Aus-einandersetzung damit nicht nur von religiösem oder historischem Wert. Sie bringt tiefe Einblicke in den Liberalismus, insbesondere zu der Frage, ob man sich durch den eigenen Verstand versklaven kann und sich so selbst die Freiheit nehmen kann, für die man eigentlich eintreten will.

Die Liberalen haben den menschlichen Verstand, kein göttliches Gebot zum Ausgangspunkt ihres Denkens gemacht. Die Freiburger Thesen der FDP[1] fordern in diesem Sinne „Fortschritt durch Vernunft“. Philosophien, die den Menschen und seine Vernunft und nicht Gott zum Ausgangspunkt ihres Denkens machen, ordnet Harari zwar dem „Humanismus“ zu, betrachtet sie aber als „Religionen“[2]:

„Die Grundüberzeugung humanistischer Religionen wie des Liberalismus, des Kommunismus und des Nationalsozialismus lautet, dass Homo sapiens über einen einzigartigen und heiligen Wesenskern verfügt, der Quell allen Sinns und aller Macht im Universum ist.“ 

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Leon Neschle 88

Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 4

„Wer die Freiheit anderer achtet, zeigt allein dadurch mehr soziale Verantwortung als die Befürworter totalitärer Systeme, denen individuelle Freiheit nichts gilt.“ (Neschle)

Die dritte Erbsünde: Egoismus statt soziale Verantwortung

Die dritte Erbsünde wird den Liberalen am häufigsten angelastet. Dennoch steckt sie nicht in den liberalen Genen. Sie findet sich aber in der libertären Mutation des Liberalismus. Libertäre verbergen sich (zu) oft als „Bekenntnisliberale“ hinter dem liberalen Etikett. Den Liberalen ist vorzuwerfen, dass sie nicht deutlich genug und nicht öffentlichkeitswirksam gegen diesen Etikettenschwindel vorgehen. 

So mancher Bekenntnisliberale glaubt, der Liberalismus lasse unbeschränkte Freiheit zu und völligen Egoismus des Einzelnen, ja fordere ihn sogar im Wirtschaftsliberalismus, ohne dass davon ein Schaden für die Gesellschaft ausgeht. Nach der Bienenfabel von Mandeville[1] werden durch den Zwang zu freiwilliger Einigung am Markt sogar private Laster zu öffentlichen Vorteilen. Auch der politische Abstimmungsprozess setzt den Individuen gesellschaftliche Schranken bei der Durchsetzung ihrer egoistischen Ziele.

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