Leon Neschle 94

Die stillen Leiden der BetriebswirtschaftslehreEin Essay mit mehr Kopf- als Fußnoten[1]

„Wer eine Sache hinter sich hat, kann sie besser vor sich sehen als wenn er sie vor sich hat.“ (Neschle)

Früher war vieles anders in der Betriebswirtschaftslehre. Heute ist vieles besser, aber längst nicht alles gut. Das gilt für Forschung und Lehre in allen Teildisziplinen dieses Fachs. Es ist aber auch einiges schlechter geworden und der allgemeine Trend des Fachs ist bedenklich. Sehr bedenklich!

Es gibt gute Gründe, warum die heutigen Vertreter die stillen Leiden dieses Fachs nicht deutlich machen. Die wichtigsten sind Selbstachtung und Eigennutz. Man beschmutzt nicht sein eigenes Nest und gefährdet nicht seine Karriere. Beides ist mir als Emeritus nicht mehr so wichtig. Daher werde ich die stillen Leiden hier laut machen, die alten, die mich selbst verbildet haben wie die neuen, die zu Lasten künftiger Generationen gehen. Diese Lasten sind der Grund für meinen Beitrag.

Ich werde mit der Lehre anfangen (Teil 1), weil sie in diesem Fach als gesellschaftlicher Multiplikator wichtiger ist als die Forschung. Wenn ich mich dann der Forschung (Teil 2) zuwende, wird man erkennen, wie wenig es heute mit der „Einheit von Forschung und Lehre“ noch auf sich hat. Die stand früher im Zentrum des Bekenntnisses eines jeden Professors. Und „Professor“ heißt „Bekenner“.

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Leon Neschle 85-93: Vorbemerkung

Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden

„Freiheit ist ein Geschenk, das sich nicht jeder gern machen lässt“ (Thomas Willmann „Das finstere Tal“)

Vorbemerkung und Vorschau zum gesamten Essay (85-93)

Hat sich der Liberalismus mit dem Niedergang des Sozialismus in Osteuropa totgesiegt? Gibt es nicht weltweit mächtigen Aufwind für antiliberale Kräfte und den „Rückbau von Rechtstaatlichkeit, Meinungs- und Pressfreiheit“[1]? Sind „Autokratien auf dem Vormarsch“[2]: in Ungarn, Indien, Brasilien, Russland, China, in den USA des Donald Trump? Können wir sogar das Todesdatum des Liberalismus vorhersagen? 

Der Bestsellerautor Harari behauptet ja: Das ist der Tag, an dem „mich das System besser kennt als ich mich selbst“.[3] Mit „System“ meint er die Datenbanken von Google und Co. Dieser Tag des Untergangs sei nahe. Sehr gewiss und sehr nahe! 

Läge Harari richtig, wäre es unsinnig, diesen Artikel über Liberalismus noch zu schreiben oder ihn zu lesen. Doch Harari liegt falsch! Das aber werde ich an anderer Stelle belegen. 

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Leon Neschle 85

Die Erbsünden des LiberalismusEssay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 1

Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ (Immanuel Kant)

Der Liberalismus und sein Erbe als Folge des Zeitgeistes seiner Geburt

„Wählt der moderne Liberale nicht Grün?“, fragte mich ein Unternehmensgründer und FDP-Mitglied im Dezember 2018.[1] Neuere Umfragen geben ihm Recht. Denn in der Gunst der traditionell liberalen Unternehmensgründer ist die FDP von 37,6 (2018) auf 27,7% (2019) gefallen, die Grünen stiegen dagegen von 22,4 auf 43,6%[2].

Doch kann man liberal sein, wenn man eine „Verbotspartei“ wählt oder gar deren Mitglied ist? Kann man liberal sein und sich zur CDU, CSU oder SPD bekennen?[3] Vielleicht sogar zu den Linken oder zur AfD? 

Spätestens hier werden viele zweifeln. Denn schon bevor ihr Gründer Bernd Lucke und seine Anhänger sich von ihr trennten, hat sich die AfD von allem Liberalen gelöst, wurde von einer Partei „rebellischer Professoren“ zu einer populistischen „Anti-Elite Partei“. Heute gilt daher: „Als überzeugter Liberaler hält man … den größtmöglichen Abstand zur AfD“.[4]

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Leon Neschle 86

Die Erbsünden des LiberalismusEssay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 2

„Ein Liberaler schwärmt eher für den Fußball als Wettbewerbssystem, für seine Regeln und für überraschende Ergebnisse, als für den Sieg (s)einer Mannschaft“ (Neschle)

Die erste Erbsünde: Zu viel Verstand, zu wenig Leidenschaft

Der Ur-Liberalismus ist das Aufbegehren des menschlichen Verstandes. Er ist hirn-, nicht bauchgesteuert! Das merkt man Liberalen bis heute an, insbesondere bei ihrer mangelnden Bereitschaft zu kollektiver Leidenschaft: Das ist deren erste Erbsünde. Diese Erbsünde ist dem Liberalismus nicht von seinen Gegnern angelastet. Sie ist ihm in die Wiege gelegt.

Liberale erzeugen mehr Gefühle sozialer Zugehörigkeit und kollektiver Leidenschaft bei denen, die sich gegen sie wenden, als bei und unter sich. Ihnen fehlt es oft an „Seele“[1], sicher aber an „Fankultur“ und an einigenden Ritualen. Linke, Rechte und fundamental Religiöse haben die, z.B. in gemeinsamen Liedern, Handlungen oder einer kollektiven Sprache, bei der oft jede Abweichung von einer Sprachpolizei moralisierend diffamiert und sanktioniert wird[2]. Linke „Aktivisten“ bauen durch ihre Sprache sogar Distanz zu Menschen auf, für die sie sich angeblich einsetzen[3]:

„Die moderne Linke, jedenfalls in ihrem akademischen Teil, scheint vor allem mit der Frage beschäftigt, wie sie dafür sorgen kann, dass niemand vom rechten, also linken Weg abkommt. Ihre ganze Energie ist darauf gerichtet, dass die Menschen nicht das Falsche sagen. Oder die falschen Witze reißen. Oder die falschen Kostüme zu Halloween tragen.“[4]

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Leon Neschle 87

Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 3

„Wenn der Verstand gottgegeben ist, muss auch sein Einsatz gottgewollt sein“ (Neschle)

Die zweite Erbsünde: Menschenverstand statt Gottes Gebot

Die zweite Erbsünde liegt wie die erste in den Genen des Liberalismus. Sie wird den Liberalen jedoch nur von Seiten der Religionen vorgeworfen. Dennoch ist die Aus-einandersetzung damit nicht nur von religiösem oder historischem Wert. Sie bringt tiefe Einblicke in den Liberalismus, insbesondere zu der Frage, ob man sich durch den eigenen Verstand versklaven kann und sich so selbst die Freiheit nehmen kann, für die man eigentlich eintreten will.

Die Liberalen haben den menschlichen Verstand, kein göttliches Gebot zum Ausgangspunkt ihres Denkens gemacht. Die Freiburger Thesen der FDP[1] fordern in diesem Sinne „Fortschritt durch Vernunft“. Philosophien, die den Menschen und seine Vernunft und nicht Gott zum Ausgangspunkt ihres Denkens machen, ordnet Harari zwar dem „Humanismus“ zu, betrachtet sie aber als „Religionen“[2]:

„Die Grundüberzeugung humanistischer Religionen wie des Liberalismus, des Kommunismus und des Nationalsozialismus lautet, dass Homo sapiens über einen einzigartigen und heiligen Wesenskern verfügt, der Quell allen Sinns und aller Macht im Universum ist.“ 

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