Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden
Teil 2
„Ein Liberaler schwärmt eher für den Fußball als Wettbewerbssystem, für seine Regeln und für überraschende Ergebnisse, als für den Sieg (s)einer Mannschaft“ (Neschle)
Die erste Erbsünde: Zu viel Verstand, zu wenig Leidenschaft
Der Ur-Liberalismus ist das Aufbegehren des menschlichen Verstandes. Er ist hirn-, nicht bauchgesteuert! Das merkt man Liberalen bis heute an, insbesondere bei ihrer mangelnden Bereitschaft zu kollektiver Leidenschaft: Das ist deren erste Erbsünde. Diese Erbsünde ist dem Liberalismus nicht von seinen Gegnern angelastet. Sie ist ihm in die Wiege gelegt.
Liberale erzeugen mehr Gefühle sozialer Zugehörigkeit und kollektiver Leidenschaft bei denen, die sich gegen sie wenden, als bei und unter sich. Ihnen fehlt es oft an „Seele“[1], sicher aber an „Fankultur“ und an einigenden Ritualen. Linke, Rechte und fundamental Religiöse haben die, z.B. in gemeinsamen Liedern, Handlungen oder einer kollektiven Sprache, bei der oft jede Abweichung von einer Sprachpolizei moralisierend diffamiert und sanktioniert wird[2]. Linke „Aktivisten“ bauen durch ihre Sprache sogar Distanz zu Menschen auf, für die sie sich angeblich einsetzen[3]:
„Die moderne Linke, jedenfalls in ihrem akademischen Teil, scheint vor allem mit der Frage beschäftigt, wie sie dafür sorgen kann, dass niemand vom rechten, also linken Weg abkommt. Ihre ganze Energie ist darauf gerichtet, dass die Menschen nicht das Falsche sagen. Oder die falschen Witze reißen. Oder die falschen Kostüme zu Halloween tragen.“[4]
Liberalen mangelt es an solchen Kollektivzwängen, an Gruppengefühl und Sozialromantik. Sie nehmen all dies als latente Bedrohung ihrer individuellen Freiheit wahr, nicht als Chance, politische Ideen gemeinsam zu denken und durchzusetzen. Liberale geben sich gern als Individualisten. Sie wollen nicht einmal denken oder sein wie andere Liberale. Sonst würden sie sich und die anderen gar nicht für Liberale halten.
Der Liberalismus setzt auf Mündigkeit des Individuums und seinen kühlen Rationalismus gegen unreflektierte Tradition, Glauben und Dogma. Unter Liberalen sucht man vergebens jenen bauchgesteuerten Fanatiker, den man bei fast jeder anderen politischen Couleur findet. Dort hat der kopfgesteuerte Liberalismus oft leidenschaftlich emotionale Gegner, die mit Begeisterung für ihre Utopie, mit Abneigung und Hass gegen die Sache der anderen und gegen die Liberalen kämpfen.
Bei radikalen Linken ist „Neo-Liberalismus“ der emotionale „Kampfbegriff“ gegen den „Klassenkampf von oben“. Jeder Liberale ist für sie ein „Marktradikaler“.[5] In der linken Denkwelt sieht der Liberale den Markt nicht als dienendes Organisationsmittel zur Allokation knapper Ressourcen. Er verehrt den Markt als gottähnliches Phänomen und ökonomischen Alleskönner. Damit heftet der Linke dem wenig leidenschaftlichen Liberalen einen Fanatismus an, den der Liberale gar nicht hat. Dem Linken scheint das aus der eigenen Denke und Emotionalität aber wohl besser verständlich.
Doch warum entfaltet der Liberalismus fanatische und fanatisierende Wirkung bei Andersdenkenden, während seine Anhänger nicht annähernd eine solche Leidenschaft mobilisieren? Wer das verstehen will, folge in ein metaphorisches Gedankenexperiment zu Fußball-Fanatikern, das durchaus auf Polit-Fanatiker übertragbar ist:
Nehmen wir an, Schalke und Dortmund würden alle Spieler und ihre Administration tauschen. Der Dortmunder Kader bestünde nur noch aus ehemaligen Schalkern und umgekehrt. Nun die Frage an den Fan: Würdest Du mit Spielern und Vorstand Fahne und Verein wechseln? Würdest Du Dich deshalb als Dortmunder zum Schalker machen und umgekehrt?
Was ist Dein Ergebnis? Vermutlich dasselbe wie bei allen echten Fans: Niemand wird seine Flagge, niemand den Verein wechseln. Borusse bleibt Borusse, Schalker bleibt Schalker. Aber an was hängt der Fan? Nicht an den Spielern, nicht am Vorstand. Die sind austauschbar. Offenbar hängt er an einem imaginären Vereinsmythos, der alle Fans einträchtig für das gemeinsame Ziel vereint. Doch worin besteht dieses Ziel?
Als blutjunge Fußballfans sagten wir „Es soll nicht der Bessere gewinnen, sondern immer nur Schalke“. Wirmeinten das ironisch, meist nach einer der vielen Niederlagen unseres Vereins. Schon wir Knirpse von zehn oder elf Jahren wussten: Das wäre das Ende dessen, was wir noch mehr liebten: das Ende des Fußballs als Spiel. Wer sollte noch Spaß daran haben, stünde das Ergebnis von vorherein fest oder würde es bereits auf dem Rasen manipuliert oder später am grünen Tisch korrigiert?
Die Liebe zum Fußball verlangte schon von uns Kleinen Frustrationstoleranz, vor allem wenn wir meinten, dass Schalke trotz besserer Leistung verloren hatte und am Ende nicht die Leistung entschied, sondern das Glück der anderen. Dieses Glück schien uns stets zu groß, unseres zu klein. Aber ohne Frustration war dieses Spiel nicht zu haben und wenn wir ehrlich zu uns waren, machte das sogar den Reiz des Spiels aus. Selbst die Ungerechtigkeit einer Schiedsrichterentscheidung ließ uns nur am Schiedsrichter zweifeln, niemals am System des Fußballs. Der Schiedsrichter musste den Regeln des Spiels verpflichtet und „gerecht“ sein, wenngleich die Gerechtigkeit unsere Vereinsbrille trug oder im Falles des Schiedsrichters tragen sollte.
Allerdings mussten wir feststellen: Hartgesottene Schalke-Fans, heute „Ultras“, dachten wirklich so, wie wir nur in unserer Ironie: „Es sollte nicht der Bessere gewinnen, sondern immer nur Schalke“. Daher bejubelten sie einen Sieg unserer Mannschaft besonders frenetisch, wenn es zu einem Elfmetertor in der letzten Minute kam, dem eine Fehlentscheidung des Schiedsrichters zugrunde lag. Für sie sollte Schalke immer gewinnen. Für dieses Ziel waren sie bereit, die Gerechtigkeit zu opfern und unbewusst sogar die Existenz des Fußballs als Spiel. Gerechtigkeit und Schiedsrichter mussten stets parteiisch sein, immer auf Seiten der Schalker.
Ultras anderer Mannschaften dachten ebenso. Auch sie scherten sich einen knetfeuchten Guano darum, dass ihr Traum vom ewigen Sieg ihrer Mannschaft letztlich den Fußball als Spiel verleugnete. Zu verlockend war die Aussicht auf das Ergebnis: nie wieder verlieren, immer und immer wieder Deutscher Meister, Pokalsieger und Sieger in der Champions League. Das ewige Triple.
Ihre einzige Begeisterung galt ihrem Verein, nicht dem Fußball als Spiel mit unbekanntem Ausgang. Ein Fußballspiel konnte Ergebnisse bringen, die sie verabscheuten. Nicht der Weg war ihr Ziel, ein nach Regeln gestaltetes Spiel, sondern das schiere Wunschergebnis „Sieg“ am Ende eines jeden Spiels, auch und gerade wenn andere das gegenteilige Ergebnis wollten. Mit genau dieser Einstellung sahen sie allein sich als „die wahren Fans“, die echten Aktivisten. Wer nur ein gutes und faires Fußballspiel sehen wollte, war bloß „Zuschauer“, aus ihrer Sicht ein Schimpfwort.
Wären da nicht politische Extremisten, die genauso denken wie extreme Fußballfans, wäre diese Metapher ein Fehlgriff. Aber sie ist es nicht, denn genau die gibt es. Sie träumen vom Paradies der Arbeiterklasse, vom muslimischen Gottesstaat oder von immerwährender Harmonie im völkischen Staat. Dieser Traumzustand ist für sie das Ende jeder Veränderung: der Endsieg für Arbeiterklasse, der Himmel für wahre Gläubige oder die Eintracht der Volksgenossen. Dieser utopische Zustand macht sie „wunschlos glücklich“, auch wenn er das Ende all ihrer Träume bedeuten muss, weil dann absolute und ewige Gewissheit herrscht. Das Gute ist endloser Sieger, weiterer Wandel ist nicht erwünscht.
Diese Endzeit-Paradiese sollen immerwährender Alltag werden. Für nicht-religiöse Fanatiker ersetzt das Paradies auf Erden das im Himmel. Überraschungen sind nicht mehr möglich, negative nicht, auch keine positiven. Es gibt keinen besseren Zustand. Alle Andersdenkenden sind bekehrt, besiegt, getötet oder versklavt. Endgültig! Es herrscht ewiger Frieden nach gnadenlosem Klassen- oder Rassenkampf oder dem heiligen Krieg, ein „paradiesischer Stillstand“. „Per aspera ad astra“: Durch Härte (und Gewalt) zu den Sternen.
Die Fixierung auf den glückseligen Endzustand ist so stark, dass die Philosophie der Bewegung darüber oft vergessen wird. Rechtsradikale kommen bei ihren Anhängern ohnehin fast ohne eine solche Philosophie aus. Doch nicht nur Rechtsradikalen ist die ideologische Begründung ihres Handelns im Grunde nicht so wichtig. Bezeichnend ist, wie wenige Sozialisten und Kommunisten „Das Kapital“ oder die Werke Lenins kennen, wie wenige Islamisten den Koran. Doch alle „Aktivisten“ wissen um die glorreiche Verheißung paradiesischer Verhältnisse am Ende ihres Kampfes. Dieses Wissen treibt sie an. Dieses allgewaltige Ziel macht ihre Gerechtigkeit parteiisch, funktionalisiert sie im Interesse ihres Ziels. Justitia ist nicht blind, sie neigt ihre Waage stets für die wahre und einzig richtige Ideologie oder Religion.
William von Baskerville sagt dazu in „Der Name der Rose“[6]: „…nicht um den Glauben geht es, den eine Bewegung anbietet, sondern allein um die Hoffnung, die sie weckt“. Und keiner fragt sich, was passieren soll, wenn der erhoffte Zustand erreicht ist. Wie geht es weiter, wenn am Ende alles „nur schön“ ist? Wofür lebt man dann?
Liberale kennen keine utopische Verheißung eines Paradieses, keinen Endzustand und keinen historischen Determinismus. Sie leben im Hier und Jetzt und bleiben der Zukunft gegenüber offen und skeptisch. Die Zukunft ist für sie kein Paradies und kein Endzustand, sondern der uns noch unbekannte und (hoffentlich!) bessere Zustand, zu dem uns faire Interaktion im Parlament und am Markt führen soll, sofern sie liberalen Grundsätzen genügen. Diese Grundsätze schließen regulierte Märkte und demokratische Wahlen ein. Liberale Demokratien finden sich weltweit ebenso in steter Entwicklung wie die Regulierungen der Märkte, bei denen Phasen der Deregulierung mit Phasen verschärfter Regulierung abwechseln.[7]
Alle Varianten des Liberalismus gleichen sich darin, dass sie sich auf keine konkrete Utopie fixieren, ergebnisoffen sind und „Raum für das Unvorhersehbare“[8] lassen. Sie unterscheiden sich jedoch in den Prämissen und in der Frage des Eigentums an der Natur, an Informationen sowie in den politischen Verfahrensweisen, aus denen sich verschiedene Formen der Demokratie ergeben.
„Liberalismus ist Politik des Wandels“ titelte einst Dahrendorf.[9] Liberale sind immer auf der Suche, einer Suche, die nie ein Ende hat: Die Menschheit kann sich kraft der menschlichen Vernunft verbessern, aber nicht auf einem linearen Pfad zum Himmel auf Erden, sondern nur stückweise und erratisch nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Zeitweise kann es sogar zu Verschlechterungen kommen und jede Verbesserung ist nur relative Verbesserung, in die neue Fakten, Erkenntnisse oder neue Wertungen einfließen. Niemals führt uns das in ein Endzeitparadies. Es gibt nicht das allzeit vorgegebene Werturteil eines politischen Dogmas, sondern einen demokratischen Prozess, in den die wandelbaren Meinungen aller einfließen, indirekt sogar die nicht-wahlberechtigter Anhänger von Protestbewegungen, die als Informationen in den politischen Prozess eingehen.
Doch auch der Liberale kennt Dogmen, allerdings allein auf der Metaebene, also Dogmen über Dogmen. Es sind zwei:
1. Habe kein Dogma, in das Du andere hineinzwingst!
2. Dulde kein Dogma, in das andere Dich hineinzwingen!
Das zweite liberale Dogma macht Liberale zum Feind totalitärer Dogmatiker von rechts und links. Politische und religiöse Extremisten haben dagegen nicht nur Dogmen über Dogmen. Sie haben Dogmen über Gott, Menschen, Gesellschaft oder Umwelt, die sie nicht hinterfragen (lassen). Gerecht ist für sie nur, was oder wer Partei für diese objektbezogenen Dogmen ergreift.
Für den Liberalen gibt es dagegen keine parteiische Gerechtigkeit, die eigene Niederlagen verhindert und immer denselben Sieger kürt. Gerechtigkeit ist blind, nicht parteiisch wie bei den utopischen Endzeitphilosophien. Da nimmt sie Partei für die Nation, die Arbeiterklasse oder die einzig wahre Religion. Unparteilichkeit ist dort ein Laster, weil sie das Erreichen des eigenen Ziels gefährden kann, bei Liberalen ist sie eine Tugend, weil ein gerechtes Verfahren sozialen Vorrang hat gegenüber jedem Wunschergebnis eines Einzelnen oder eines Kollektivs, das faire Fußballspiel vor dem Sieg der eigenen Mannschaft.
Demokratie sorgt immer wieder für politische Niederlagen eines Liberalen, der Marktprozess für wirtschaftliche Niederlagen, die in Insolvenzen enden können. Beide werden akzeptiert um des gerechten Verfahrens willen. Auch dieses Verfahren ist Gegenstand politischer Diskussionen und Veränderungen, wenn sich zeigt, dass deren Folgen von der Mehrheit nicht mehr getragen werden.
Die neuen Linken leugnen aber sogar das Mehrheitsprinzip, wenn es eine von ihnen postulierte moralische Überlegenheit gefährdet. Ihre Methode ist so einfach wie durchsichtig: Die Mehrheit diskriminiert stets die Minderheit, macht sie zum Opfer. „Diese Umwertung eines statistischen in einen moralischen Begriff dient auch dazu, quantitative Unterrepräsentation in Diskriminierung umzudeuten und daraus moralische und rechtliche Ansprüche abzuleiten. … Die daraus entstehenden Konflikte zwischen verschiedenen Minoritäten sind in einer pluralistischen Gesellschaft jedoch nur durch einen allmächtigen Regelungsstaat auflösbar. Dessen autoritärer Gestus wird noch dadurch gestärkt, dass er nicht im Namen schlichter Macht agiert, sondern als Hüter der überlegenen Minoritätenmoral.“ [10]
Dem so in seiner Macht gestärkten Staat fällt die Aufgabe zu, das moralische Recht der Minderheiten durchzusetzen, auch zu Lasten der Mehrheit. Das geschieht beispielsweise durch Quoten, aber auch durch gesetzliche Regelungen, die es Minderheiten erlauben, demokratische Mehrheitsentscheidungen endlos zu blockieren. Mit Minderheitenschutz durch die Mehrheit hat das nichts mehr zu tun: Hier wedelt der Schwanz mit dem Hund. Die Mehrheit wird moralisch und faktisch zum Underdog.
Wie weit dies heute schon in die politischen Prozesse der Volksparteien eingedrungen ist, zeigt sich an den Quotenregelungen für eine „gefühlte Minderheit“: die Frauen. Wo die Frauen in der faktischen Minderheit sind, wird quotiert. Und zwar nicht nach den jeweiligen Gruppen, die repräsentiert werden sollen, sondern nach der Gesellschaft insgesamt. So sollen im Aufsichtsrat einer Unternehmung 50% Frauen sitzen, auch wenn in der Aktionärsversammlung nur 10% vertreten sind, obwohl der Aufsichtsrat diese Versammlung und nicht die Gesellschaft als Ganzes repräsentiert. Wenn man so will, ist das eine Vorstufe einer Vergesellschaftung der großen Unternehmen, weil der Maßstab hier aus der Gesamtgesellschaft abgeleitet wird. Abgesehen davon, dass es beim Sitz im Aufsichtsrat ankommt, was jemand im Kopf hat, nicht zwischen den Beinen, räumt die Quote im Beispiel der weiblichen Aktionärsminderheit eine neunfach höhere Chance auf einen Aufsichtsratsposten ein.
Der demokratische Prozess führt derzeit unter dem Anspruch feministischer Emanzipationsvorstellungen zu solch fragwürdigen Veränderungen. Doch was sich an Widerstand gegen geltende Zustände aufgestaut hat, bricht sich auch hier nur langsam und friedlich Bahn, statt in einer gewaltsamen Revolution aufzuflammen. Politischer Stau wird allmählich abgelassen, statt den Damm zu überfluten und mit sich fortzureißen. Der Liberalismus ist ein Modell für politischen Frieden jetzt, nicht erst, wenn die Feinde des eigenen Dogmas besiegt sind, wie das Klassen- oder Rassenkampf und „heiliger Krieg“ vorsehen.
Es wäre freilich naiv zu glauben, der liberale Staat sei durch seine politische Flexibilität und Elastizität in seinem Bestand gesichert oder er sei, nachdem einmal erreicht, der natürliche Endpunkt jeder politischen Entwicklung, weil der Druck auf dem politischen Kessel jederzeit ohne Explosion entweichen kann. Diesen Glauben widerlegen die derzeitige Tendenz, die „moralischen Rechte“ der Minderheiten über die der politischen Mehrheit zu stellen, gestaffelt nach „Opferpunkten“, die man nach dem Grad gefühlter Diskriminierung sammelt[11], aber auch die Rückkehr der autoritären Männer, von Erdoǧan über Orban bis Putin, und der steril gebliebene Arabische Frühling.[12] Daher muss ein aufgeklärter Liberalismus wehrhaft sein gegenüber autoritären Tendenzen, die ihn zu beseitigen suchen, und begeisterungsfähig, wenn es gilt, den liberalen Staat zu etablieren und zu schützen.
An dieser Begeisterungsfähigkeit mangelt dem Liberalen allzu oft. Denn Begeisterung braucht starke Überzeugungen, Emotionen und Utopien. Extremistische Heilsvisionen sind voll davon, voll zauberhafter Illusionen und Träume; liberale Visionen wabern dagegen im Nebel der Ungewissheit. Linke, rechte und religiöse Extremsten wollen ihre traumhafte Utopie auch mit Gewalt gegen jeden Widerstand durchsetzen: „Rechte und Linke wissen genau, wie die Welt auszusehen hat, wie eine Gesellschaft funktionieren muss und was gut für andere Menschen ist. Diesem Hochmut und dieser Anmaßung des Wissens setzt der Liberale die Demut entgegen.“[13] Denn Liberale sprechen niemanden das Recht zu, den einzig gerechten Endzustand zu kennen und diesen anderen vorzuschreiben. Auch nicht sich selbst!
Damit kommt der Liberale im Vergleich zum extremistischen Alleswisser unentschlossen, ambivalent, aber auch bescheiden daher. Er akzeptiert Unsicherheit beim gegenwärtigen Stand seines Wissens, ja er führt sogar einen Kampf gegen die „Anmaßung von Wissen“.[14] Dagegen hat mancher Extremist den endgültigen Zustand seiner Erkenntnis schon erreicht, weit vor der definitiven Ankunft in seinem Paradies. Er hat das wahre Dogma und die richtige Gesinnung. Er muss nicht lernfähig sein, er darf es nicht einmal, weil ihn Lernfähigkeit von seinem Ziel abbringt. Besonders extrem ist das bei religiösen Fanatikern, deren Wissen direkt von Gott kommt und daher keinerlei weltliche Zweifel oder Widersprüche duldet. Diese innere Überzeugung stattet die Paradiesgläubigen mit einer Begeisterung aus, die skeptischen Liberalen fehlt.
Natürlich kann man auch als Liberaler meinen, einen paradiesischen Endzustand zu kennen. Sicher sollte man als Liberaler politische Nah- und Fernziele, sogar individuelle Utopien haben. Aber „die Vordenker des Liberalismus verzichten bewusst auf allgemeine Zukunftsentwürfe. Ihr Ziel ist es, die Zukunft offen zu halten“.[15] Der Liberalismus lässt Raum für viele individuelle Zukunftsvisionen, vorausgesetzt sie verzichten darauf, sich mit Gewalt durchzusetzen. Diesen Gewalt-Anspruch erheben jedoch extremistische Visionen, weil in ihnen eine Heilsbotschaft für alle Menschen liegt, die gegen jeden Widerstand durchzusetzen ist. Wer diese Botschaft nicht hört oder hören will, muss bekehrt oder vernichtet werden.
Für Liberale endet das Recht auf eine eigene Zukunftsvision dagegen in der Freiheit der anderen, anderes oder anders zu denken und anders zu sein. Liberale richten den Blick nicht auf ein einziges Ende, sondern auf Regeln des Umgangs, die mehrere und im Vorhinein unbekannte Ergebnisse möglich machen. Sie machen den Weg zum Ziel. Oder um es mit obiger Metapher zu sagen: Sie lieben den Fußball mit seinen ungewissen Ausgängen mehr als den ewigen Sieg der eigenen Mannschaft.
Es ist die liberale Toleranz gegenüber der Ungewissheit der Zukunft, die Einsicht in menschliche Fehlbarkeit und die Akzeptanz mehrerer Lösungen, die linken, religiösen oder rechten Fanatikern fremd ist und ihnen Angst macht. Sehr fein analysiert das Umberto Eco (Der Name der Rose) in einem Zwiegespräch zwischen William von Baskerville und seinem religiös-dogmatisch infiltrierten Adlatus Adson von Melk, zugleich der fiktive Erzähler. Der fragt William[16]:
„‘Demnach habt Ihr nicht eine einzige Antwort auf alle Fragen?‘
‘Lieber Adson, wenn ich eine hätte, würde ich in Paris Theologie lehren (bei den damaligen christlichen Dogmatikern und Fundamentalisten)‘
‚Und in Paris haben sie immer die richtige Antwort?‘
;Nie‘, sagte er fröhlich, ‚aber die glauben sehr fest an ihre Irrtümer.‘
‚Und Ihr‘, bohrte ich weiter mit kindischer Impertinenz, ‚Ihr begeht nie Irrtümer?‘
‚Oft‘, strahlte er mich an, ‚aber statt immer nur ein und denselben zu konzipieren, stelle ich mir lieber viele vor und werde so Sklave von keinem‘.
Ich hatte allmählich den Eindruck, dass William überhaupt nicht ernsthaft an der Wahrheit (Für ihn als Dogmatiker ist die absolut!) interessiert war …. Stattdessen amüsierte er sich damit, so viele Wahrheiten wie möglich zu ersinnen.“
Und dann beginnt Adson, über eine Lösung nachzudenken, die allen Dogmatikern einfällt, die sich mit solch „liberalen Ungeheuerlichkeiten“ konfrontiert sehen:
„In diesem Moment, ich gestehe es, verzweifelte ich an meinem Meister und ertappte mich unwillkürlich bei dem Gedanken: ‚Gar nicht so schlecht, dass die Inquisition gekommen ist!‘ Jawohl ich ergriff Partei für den Wahrheitsdurst (nach der einzig denkbaren Wahrheit!), der einen Mann wie (den Inquisitor) Bernard Gui erfüllte.“
Da schreit Adson innerlich nach der Gedankenpolizei, weil William nicht an Adsons einzige Wahrheit glaubt, die der Dogmatiker in ihm allen Menschen vorschreiben will. Feindes- und Todeslisten, die unter Rechtsradikalen kursieren und 25.000 Namen enthalten sollen, Morddrohungen von links gegen unliebsame Abgeordnete[17] und Attentate religiöser Fanatiker sind extremer Ausdruck dieser Haltung. Da geht es nicht mehr um verbale Maßregelung, sondern um Anwendung von Gewalt und um Ermordung Andersdenkender.
Wo es Fundamentalismus gibt, da gilt Freiheit als Bedrohung, nicht als Verheißung. Da gibt es Inquisition, selbst wenn diese STASI, GESTAPO oder „Ausschuss für die Verbreitung der Tugend und Verhinderung von Lastern“ heißt. Dabei werden Andersdenke gezwungen, den eigenen Regeln zu folgen, in der Öffentlichkeit Saudi-Arabiens auch Nichtmuslime zur Einhaltung muslimischer Vorschriften angehalten[18]. In Belgien wurde die „Partei Islam“ mit dem Ziel in regionale Parlamente gewählt, einen „100 Prozent reinen islamischen Staat wie zur Zeit unseres lieben Propheten Mohammed“[19] zu errichten, mit der Scharia für alle Belgier und plakativ mit der Forderung, Männer und Frauen im öffentlichen Nahverkehr zu trennen. In Deutschland gab es ähnliche Versuche einer „Scharia-Polizei“, die sich später harmloser „Pro Halal“ nennt[20], aber ähnliche Ziele verfolgt. –
Habe ich christliche Fundamentalisten ausgelassen? Mit purer Absicht! „Kreuzfahrer“, die von muslimischen Fundamentalisten noch nach 800 Jahren als Gegner ihres „heiligen Krieges“ ausgerufen werden, (fr)essen heute zwar immer noch Schweinefleisch und saufen sich die Hucke voll, aber sie tun das auf großen Schiffen, richten damit aber fast ebenso viel Schaden an wie damals. Doch im Vergleich zu muslimischen Fundamentalisten spielen christliche Fundamentalisten machtpolitisch derzeit keine große Rolle. Aber die Gefahr steigt, wenig überraschend vor allem außerhalb des aufgeklärten Europas, in den USA oder jüngst in Brasilien.
Allen Radikalen ist gemein, dass sie ihren Zweck moralisch über alle Mittel stellen und über alle Rechte anderer Menschen. Alle Radikalen eint die explosive Bewegung ihrer „Aktivisten“ in die absolute und endgültige Erstarrung: ihre jeweilige Utopie. Da bleibt für die Wahl der ansonsten beliebigen Mittel nur das Kriterium, wie geeignet sie sind, diese Utopie schnell und effizient zu erreichen. Dabei setzen sich meist die Radikalsten durch, weil sie das Prinzip „Der Zweck heiligt die Mittel“ konsequenter umsetzen als von moralischen Skrupeln geplagte Moderate. Die Revolution frisst ihre Kinder, vor allem ihre moderaten. Das lehrt uns schon die Französische Revolution.
Das paradiesische Ziel und die Anmaßung absoluten Wissens erzeugen bei Extremisten eine Leidenschaft, die Liberalen fremd ist. Denn Liberalismus ist eine „Anti-Ideologie“.[21] Liberale überantworten die Zukunft dem demokratischen Prozess und stellen „eine Lösung für alle“ grundsätzlich in Frage. Liberale Zweifler glauben stattdessen an die Notwendigkeit, Instrumente bereitzustellen, welche die Gesellschaft in die Lage versetzen, eine für alle ungewisse Zukunft friedlich zu bewältigen.
Dafür sollen insbesondere Demokratie und Marktwirtschaft eingesetzt werden, erstere mit Gewaltenteilung[22], letztere mit dem Markt als Mittel zur Verteilung knapper Ressourcen. Über die Knappheit bestimmt neben der natürlichen Begrenztheit der Ressourcen der gesetzliche Rahmen, der Produktion oder Handel verbietet (harte Drogen) oder Höchstmengen festsetzt (CO2-Ausstoß). Demokratie und Marktwirtschaft haben allein „dienende Funktion“. Sie sollen helfen, flexible Lösungen für eine ungewisse Zukunft zu ermöglichen. Gewaltfrei und ohne Zwang![23] Das ist ein Unterschied zu Polit-Hooligans der Extremen, die davon träumen, ihre Gegner zu erschießen oder in die Zwangsarbeit zu schicken.
Solche Extremisten unterstellen den (Neo-)Liberalen, ihren Mitmenschen jede Sicherheit zu rauben, „die notwendig für ein planbares Leben ist“.[24] Als habe vor diesem „Raub“ ein Zustand der Sicherheit geherrscht und als böten extreme Linke oder Rechte den Menschen echte Sicherheit durch Abschaffung von Markt und Wettbewerb oder gar von Demokratie. Zwar haben „die beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts … soziale Sicherheit gegen politische Freiheit ausgespielt.“[25] Aber mehr Sicherheit gibt es im (national-)sozialistischen System allenfalls für Gleichgesinnte, für Andersdenkende vermindert sie sich.
Unter der Adelsherrschaft war es da kaum anders: Autoritäre Systeme bieten, solange das System existiert, Sicherheit nur denen, die linientreu sind und bleiben. Für alle anderen ist das Leben unsicherer. Zugleich ist das System der Staatsversicherung, des großen Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit, zur Insolvenz verdammt. Der sozialistische Versuch, linientreue Aktivisten gegen (fast) alle Lebensumstände zu versichern, befreit von individueller Verantwortung und führt zum verantwortungslosen Umgang mit knappen Ressourcen. Dies bewirkte auch, dass die reale DDR das Endziel eines Arbeiterparadieses nicht einmal näherungsweise erreichen konnte.
Was aber hat der Liberale den paradiesischen Utopien des rechten Nationalstaats, der weltumgreifenden Internationalen oder dem Gottesstaat entgegenzusetzen? Gar nichts! Denn über die konkrete Zukunft kann und will er nicht allein oder kraft seiner Ideologie entscheiden. Er akzeptiert die Zukunft als Ergebnis eines ungewissen Prozesses, der zwar feste Verfahrensregeln kennt, aber kein festes Ergebnis.
Der Liberale erkennt diese Regeln sogar bei und nach politischen und wirtschaftlichen Niederlagen an. Er verheißt kein nationales, religiöses oder sozialistisches Paradies, das er allen anderen zwangsweise verordnen will. Das würde den Liberalismus ad absurdum führen. Es gibt kein liberales Dogma über einen perfekten Endzustand, aber es gibt liberale Dogmen über freiheitliche und gerechte Verfahrensweisen im Hier und Jetzt. Es geht dabei nicht um den Inhalt einer Debatte, sondern um die Form, in der sie geführt wird. In diesem Punkt können sogar Liberale unerbittlich sein. Denn: Wahrhafte Demokratie muss wehrhafte Demokratie sein.
Daher überrascht es nicht, wenn Friedrich August von Hayek, einer der großen Protagonisten des Liberalismus beklagt[26]:
„Wir müssen das Erschaffen einer freien Gesellschaft wieder zum intellektuellen Abenteuer, einer mutigen Tat machen. Uns fehlt (dazu) ein liberales Utopia, ein Programm, das weder eine reine Verteidigung des Status Quo noch eine verwässerte Form des Sozialismus zu sein scheint, sondern ein wahrer liberaler Radikalismus, der die Empfindlichkeiten der Mächtigen (inklusive der Gewerkschaften) nicht scheut, der nicht allzu streng praktisch orientiert ist, und er sich nicht auf das beschränkt, was heute politisch machbar scheint.“
Hayek sieht das Problem, nennt aber keine Lösung. Das verführt manche zu der Behauptung der Liberalismus sei „inhaltlich leer“. „Ihm fehlt das endgültige Ziel, der Punkt am ideologischen Horizont, an dem er sich orientieren kann. Der Liberalismus meint irgendwie alles und nichts.“[27] Er „hat den großen Nachteil, dass er dem Wähler gar nichts anbietet. Der Liberalismus gibt dem Menschen einen Stups und sagt: ‚Hier hast du deine Freiheit, mit der musst du etwas anfangen. Wir können Dir nichts an belastbaren Inhalten anbieten‘. Entscheidend wäre dann: Wie kann man dieses Nicht-Angebot irgendwie politisch attraktiv machen?“[28]
Für ein „liberales Utopia“ im Sinne von Hayek scheinen die Chancen daher schlecht. Doch so schwer sind seine Bedingungen für ein Abenteuer „Liberalismus“ gar nicht zu erfüllen: 1. Keine unkritische Verteidigung des Status Quo. 2. Keine Rücksicht auf Empfindlichkeiten der Mächtigen. 3. Keine verwässerte Form des Sozialismus. 4. Nicht auf das beschränkt, was heute politisch machbar erscheint:
1. Angesichts akuter Bedrohungen der Freiheit durch private und staatliche Macht überall auf der Welt, kommt eine unkritische Verteidigung des Status Quo für einen Liberalen ohnehin nicht in Frage. Zu fortgeschritten sind die Bedrohungen der liberalen Gesellschaft weltweit, insbesondere durch einen auf moralischen Überlegenheit von Minderheiten gestützten Hyperetatismus, durch die Kontrolle im Internet, durch populistische Strömungen und durch links- und rechtsradikale sowie durch fundamental religiöse Strömungen.
2. Soweit sich Mächtige offen gegen den Liberalismus wenden, kann die Antwort nur passiver und aktiver Widerstand sein. Schwieriger ist der Umgang mit den Wölfen im Schafspelz, die sich liberal nennen und geben, damit aber nur die eigene Freiheit meinen und nur eigene Interessen durchsetzen. Hier muss sich der Liberale zum Teil gegen Leute in den eigenen Reihen stark machen.
3. Für den Liberalen ist Leben Veränderung und permanente Entwicklung. Der Sozialismus will Ergebnisse des Handelns von Vornherein festlegen oder im Nachhinein so korrigieren, dass sie seinem ideologischen Gerechtigkeitsmaß genügen. Dem Liberalismus geht es dagegen um Fairness bei Startchancen und beim Zustandekommen der Ergebnisse, um die Entwicklung der Regeln, die zu anerkannten Resultaten führen und die, wie das Ergebnis eines Fußballspiels, nur selten durch nachträgliche Eingriffe korrigiert werden (müssen).
Zentraler Gerechtigkeitsbegriff außerhalb des Liberalismus ist die distributive Gerechtigkeit, die jedem seinen Teil nach gewillkürten Maßstäben autoritär zuweist, zentraler Gerechtigkeitsbegriff im Liberalismus ist eine kommutative Gerechtigkeit, die jedem den Teil lässt, den er unter gerechten Regeln in gegenseitiger Abstimmung mit anderen erworben hat (Neschle 10). Eine „verwässerte Form des Sozialismus“ entsteht daher, wenn Ergebnisse im Nachhinein verändert werden, statt Ausgangsbedingungen und Regeln für deren Zustandekommen zu ändern. Darin muss der liberaleSchwerpunkt liegen.
4. Liberales Denken in Diktaturen, in der Günstlingswirtschaft eines Crony Capitalism oder in (neo-)feudalen Strukturen durchzusetzen, ist heute politisch kaum machbar, in China und Nordkorea noch viel schwerer als in der Türkei oder den USA. Dazu tragen auch die Kontrollinstrumente der Informationsgesellschaft bei. Sie gefährden die liberale Gesellschaft in einer nie gekannten Weise und ein einem bislang unvorstellbaren Ausmaß. Auch wenn es politisch kaum machbar scheint, versuchen es hier die Regenschirme von Hongkong.
Wer angesichts dessen nicht versteht, warum Liberalismus heute ein Abenteuer ist, das großen Mut erfordert, der auch hält die friedlichen Proteste der Ostdeutschen zur Wende, die von Whistleblowern, die Machtmissbrauch öffentlich machen, und die jüngsten Proteste in Belarus für Taten von Schlappschwänzen. Da aber findet man sie: die Vorbilder für eine liberale Utopie, eine friedliche Fortentwicklung einer Gesellschaft mündiger Bürger in Freiheit.
In einer kritischen Sicht könnte die liberale Utopie auch eine „Wächterfunktion“ sein, welche die ideologischen Masterpläne der Linken, der Rechten oder religiöser Extremisten infrage stellt. Aggressiver und mit positiver Orientierung man könnte fragen, ob der Liberalismus tatsächlich „inhaltlich leer“ ist, wenn er für faire Ausgangsbedingungen und ein faires Regelwerk steht, nach dem politisch gehandelt wird? Genau da verweigern nämlich andere politische Ideologien die Inhalte und ersetzen sie durch Dirigismus oder gewaltsamen Kampf. Das Problem der Liberalen ist nicht, dass sie keine Inhalte haben, sondern dass sich diese Inhalte nicht in erster Linie auf materielle Forderungen richten, sondern vor allem auf faire Verfahrensregeln. Sie versagen jedoch daran, dies anderen deutlich zu machen.
Unsicheren Menschen scheint das nicht zu genügen. Sie suchen Visionen von einem Paradies und folgen bereitwillig den Visionären, die ein solches Paradies vor sich und anderen sehen. Selbst die abstrusesten Endzeitphantasien sind für sie besser als die Verheißung eines ungewissen Lebens in Freiheit. Wer ein glücksverheißendes Schlaraffenland als politische Richtschnur braucht, wählt extrem links, extrem rechts oder schließt sich einer fundamental religiösen Strömung an. Er hält es nicht aus, liberal zu sein, weil eine liberale Verfassung seinem Endziel im Wege steht und weil sie ihm ständige Frustrationstoleranz im Umgang mit Niederlagen abverlangt.
Der Liberale könnte freilich mehr von der Leidenschaft solcher Bewegungen gebrauchen. Denn „Durch die Leidenschaften lebt der Mensch; durch die Vernunft existiert er bloß“.[29] Leidenschaft kann jedoch Vernunft nicht ersetzen und Vernunft nicht Leidenschaft. Leidenschaft ist der Motor, Vernunft das Steuer. Ohne Vernunft geht eine Bewegung in die Irre, ohne Leidenschaft bleibt sie antriebslos.
Kann die Begeisterung für den Fußball mit seinen ungewissen Ergebnissen dieselbe Leidenschaft entfachen wie die für einen Verein, von dessen immerwährenden Siegen man träumt? Gibt es Fußball-Ultras neben Vereins-Ultras? Wohl kaum! Woher sollen da die Träume und Visionen kommen? Von verbesserten Abseitsregeln oder Videokontrollen sicher nicht. Dennoch ist es der Fußball, der alle Vereinsträumereien von Hooligans überlebt und all die Vereine, die längst das Rampenlicht verlassen haben, obwohl ihre Ultras von immerwährenden Siegen träumten.[30]
Ist das schlecht oder gut, dass der Fußball als System jeden Verein überleben kann und die Republik jede Partei? Wie sollten Fußballfreunde mit dem Fanatismus der Vereinsanhänger umgehen, wie Liberale mit dem Fanatismus ihrer Gegner?
Irgendwie glaubt der Liberale ja immer, dass sich die Vernunft durchsetzt. Wie der Altbundeskanzler Helmut Schmidt. Der hat sich dezidiert für Vernunft in der Politik ausgesprochen. Er weist der Leidenschaft aber einen noch wichtigeren Platz zu: Die Leidenschaft gehört nach seiner Ansicht auf die Metaebene. Sie soll uns zur Vernunft antreiben:
„In der Politik hat keine Emotion und keine Leidenschaft Platz außer der Leidenschaft zur Vernunft.“ [31]
Ein liberaler Sozialdemokrat weist hier den Weg für eine liberale Leidenschaft: Nicht Leidenschaft stattVernunft, wie bei Ultras und Extremisten, sondern Leidenschaft für Vernunft. Diese Leidenschaft verlangt kompromisslose Aufdeckung aggressiver Dummheit, gefährlicher Spinnerei, moralischer Überheblichkeit und gutmenschlicher Bevormundung.
[1] Vgl. stellvertretend für alle Liberalen: Der neuen FDP fehlt eine Seele. https://www.zeit.de/politik/deutschland//2018-01/liberalismus-fdp-christian-lindner-dreikoenigstreffen. (10.11.19) Doch das ist kein „neues“ Phänomen für den Liberalismus. Es ist eine Erbsünde.
[2] Vgl. dazu Alexander Kissler, Alexander Marguier, Christoph Schwennicke, Der Kampf um den Kanon, in: Cicero 06 2019, S. 16-27.
[3] Vgl. dazu selbstkritisch Jan Korte, Neoliberalismus: Wir brauchen eine Generalüberholung linker Politik. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-03/neoliberalimus-die-linke-jan-korte-kritik-opfer. (23.01.20).
[4] Jan Fleischhauer, Die neuen Puritaner von links: Wenn selbst der Barkeeper zum Feind wird, https://www.focus.de/politik/deutschland/schwarzer-kanal/der-schwarze-kanal-unsere-puritaner-von-links_id_11273958.html. (20.01.2020)
[5] Wem vor abstrusen Texten nicht bange ist, der lese: ohne Verfasser, Neoliberalismus und Marktradikalität, https://www.freitag.de/autoren/sikkimoto/neoliberalismus-und-marktradikalismus. (16.01.20) Zwei Beispiele, das erste für die Einordnung des Neoliberalismus, das zweite für seine angeblichen Machenschaften: „Bezogen auf die Wirtschaftswissenschaften stellt der Neo-Liberalismus die Schnittstelle dar zwischen schlechter Ökonomie und offenem Lobbyismus“. – “Die Sicherheit der Restbevölkerung darf vor allem nichts kosten. Deswegen ist der Neoliberalismus gerne bereit, Befugnisse für Polizei und Geheimdienste immer weiter auszudehnen, aber niemals für ausreichende Personalstärke im Streifendienst zu sorgen.“ (Zwei Zeichensetzungsfehler korrigiert,)
[6] Umberto Eco, Der Name der Rose, München, Wien 1982, S. 258 (Rechtschreibung angepasst!).
[7] Vgl. dazu auch Andreas Reckwitz, Liberalismus- ein Ordnungsruf. https://www.zeit.de/2019/47/liberalismus-regulierungen-dynamisierung-demokratie-nationaloekonomie.(20.01.2020)
[8] Karen Horn, Friedrich August von Hayek: Wider die Anmaßung von Wissen, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/die-weltverbesserer/friedrich-august-von-hayek-wider-die-anmassung-von-wissen-12605023.html. (01.02.20)
[9] Ralf Dahrendorf, Liberalismus ist Politik des Wandels. Es gibt einen Platz für eine liberale Partei in der Bundesrepublik. https://www.zeit.de/1983/02/liberalismus-ist-politik-des-wandels/seite-2. (02.02.2020)
[10] Alexander Grau, Liberalismus ade: Wie der moderne Hyperindividualismus zum Hyperetatismus führt, https://www.nzz.ch/feuilleton/liberalismus-ade-oder-ueber-das-krux-der-minderheiten-ld.1561505. (18.08.2020)
[11] Siehe dazu René Scheu, Die zersplitterte Gesellschaft: Warum wir uns wie Stammeskrieger gebärden, https://www.nzz.ch/feuilleton/geschlecht-sexuelle-orientierung-ethnie-der-neue-kulturkampf-ld.1539066?reduced=true. (18.08.2020)
[12] Siehe dazu Eduard Kaeser, Das Zeitalter der starken Männer – über den naiven Liberalismus, https://www.nzz.ch/meinung/das-zeitalter-des-starken-mannes-ueber-den-naiven-liberalismus-ld.1408598. (28.11.19)
[13] https://blogs.faz.net/whatsleft/2015/09/05/liberale-muessen-behutsam-sein-329/. (09.01.20)
[14] Mit Betonung darauf von Hayek: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftswissen/die-weltverbesserer/friedrich-august-von-hayek-wider-die-anmassung-von-wissen-12605023.html?service=printPreview. (04.11.2019)
[15] Ralf Fücks, Wir brauchen eine Erneuerung des Liberalismus, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article183038312/FDP-Wir-brauchen-eine-Erneuerung-des-Liberalismus.html. (22.1.20)
[16] Umberto Eco, Der Name der Rose, München, Wien 1982, S.391f. (Rechtschreibung angepasst; Zusätze in Klammern)
[17] Siehe https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-07/todeslisten-rechtsextremismus-behoerden-umgang-faq. (05.09.2019) und https://www.bild.de/regional/stuttgart/stuttgart-aktuell/judith-skudelny-bedroht-linksextreme-schicken-patrone-an-politikerin-67005184.bild.html. (02.01.20)
[18] Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Islamische_Religionspolizei. (05.09.2019)
[19] Ohne Verfasser, Partei Islam will einen islamischen Staat errichten und die Scharia einführen – mitten in Europa, https://www.stern.de/politik/ausland/partei-islam-will-in-belgien-einen-islamischen-staat-errichten-8399152.html. (06.10.2019)
[20] Siehe https://www.nrz.de/staedte/duesseldorf/scharia-polizei-laeuft-jetzt-als-pro-halal-durch-duesseldorf-id9809860.html, (05.09.2019)
[21] Vgl. dazu Alexander Grau, Wie der Liberalismus die Freiheit zerstört. https://www.cicero.de/kultur/liberalismus-krise-freiheit-politik/plus. (20.04.2010)
[22] Vgl. dazu den Teil über den Verfassungsliberalismus im Wikipedia-Artikel „Liberalismus“, https://de.wikipedia.org/wiki/Liberalismus. (23.03.20)
[23] Zur grundlegenden Bedeutung der „Abwesenheit jeglicher Gewalt und jedes Zwangs“ vgl. den Abschnitt „Politische Philosophie“ im Wikipedia-Artikel „Liberalismus“, https://de.wikipedia.org/wiki/Liberalismus. (23.03.20)
[24] Jan Korte, Wir brauchen eine Generalüberholung linker Politik, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-03/neoliberalimus-die-linke-jan-korte-kritik-opfer. (08.12.19)
[25] Lenz Jacobsen, Zukunft des Liberalismus – Das Taumeln der Liberalen, https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Lenz+Jacobsen%2C+Zukunft+des+Liberalismus+%E2%80%93+Das+Taumeln+der+Liberalen. (29.04.2020)
[26] Friedrich August von Hayek, Die Intellektuellen und der Sozialismus (Teil 3), https://www.misesde.org/2015/09/die-intellektuellen-und-der-sozialismus-teil-3/. (20.01.20) Ergänzung R.E.
[27] Wolf- Sören Treusch, Freiheit oder Liberalismus, Teil 1: Eine Spurensuche im politischen Alltag, https://www.deutschlandfunkkultur.de/freiheit-oder-liberalismus-1-4-eine-spurensuche-im.976.de.html?dram:article_id=310801.
[28] Dieter Schnaas zitiert nach Wolf- Sören Treusch, Freiheit oder Liberalismus, Teil 1: Eine Spurensuche im politischen Alltag, https://www.deutschlandfunkkultur.de/freiheit-oder-liberalismus-1-4-eine-spurensuche-im.976.de.html?dram:article_id=310801. Vgl. dort auch das Folgende.
[29] Zitat von Nicolas-Sebastien Chamfort, https://www.gutzitiert.de/zitat_autor_chamfort_thema_leidenschaft_zitat_13445.html. (20.01.2020)
[30] Das wurde geschrieben, bevor das Corona-Virus die Verletzlichkeit mancher Vereine zeigte.
[31] Helmut Schmidt zitiert nach Theo Sommer, Mit der Leidenschaft zur Vernunft, S. 1-10, hier S. 9, https://www.zeit.de/2008/51/Essay-Theo-Sommer/komplettansicht.
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