Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden
„Freiheit ist ein Geschenk, das sich nicht jeder gern machen lässt“ (Thomas Willmann „Das finstere Tal“)
Vorbemerkung und Vorschau zum gesamten Essay (85-93)
Hat sich der Liberalismus mit dem Niedergang des Sozialismus in Osteuropa totgesiegt? Gibt es nicht weltweit mächtigen Aufwind für antiliberale Kräfte und den „Rückbau von Rechtstaatlichkeit, Meinungs- und Pressfreiheit“[1]? Sind „Autokratien auf dem Vormarsch“[2]: in Ungarn, Indien, Brasilien, Russland, China, in den USA des Donald Trump? Können wir sogar das Todesdatum des Liberalismus vorhersagen?
Der Bestsellerautor Harari behauptet ja: Das ist der Tag, an dem „mich das System besser kennt als ich mich selbst“.[3] Mit „System“ meint er die Datenbanken von Google und Co. Dieser Tag des Untergangs sei nahe. Sehr gewiss und sehr nahe!
Läge Harari richtig, wäre es unsinnig, diesen Artikel über Liberalismus noch zu schreiben oder ihn zu lesen. Doch Harari liegt falsch! Das aber werde ich an anderer Stelle belegen.
Hier geht es um etwas anderes, über das Friedrich August von Hayek vor über 70 Jahren in einem auf Englisch erschienenen Artikel geunkt hat: „Nachdem die wesentlichen Forderungen des liberalen Programms erfüllt waren, vernachlässigten die liberalen Denker die Fortbildung der philosophischen Grundlagen; der Liberalismus hörte damit auf, ein lebendiges Problem zu sein, das zu geistiger Arbeit reizte“.[4] Das könnte eine der Ursachen dafür sein, dass die FDP heute nicht nur für Christoph Seils[5] „intellektuell blank“ daherkommt und zu einem Personenwahlverein ohne liberale Programmatik zu verkommen scheint, wie allerdings andere Parteien auch.
Nach langer philosophischer Apathie kämpft der Liberalismus heute noch mit Vorderlader und Haubitze seiner Gründerzeit, während seine populistischen und totalitären Gegner die Menschen mit den Cyber-Kontrollwaffen des Internets bei jedem Click „freiwillig“ in die Unfreiheit entführen. Für Harari bedeuten diese Waffen den Untergang des Liberalismus. Doch er sagt nicht, was den Liberalismus ersetzen wird[6] und ob das von ihm vorhergesagte Ende des Liberalismus eine bessere Zukunft für die Menschheit verspricht. Auch weil er selbst Zweifel daran hat, scheint es der Mühe wert, das angeblich „unabänderliche“ Schicksal des Liberalismus abzuwenden:
Lange Zeit schon ruft das liberale Denken nach Erneuerung, auch wenn einflussreiche Liberale meinen „Der Liberalismus lebt. Er braucht keine Erneuerung“.[7] Was für ein Irrtum! Spätestens seit Darwin wissen wir: Alles was lebt, muss sich permanent wandeln und erneuern, schon weil sich rundherum alles verändert. Der Liberalismus der Informations- und Wissensgesellschaft kann nicht derselbe sein wie der in vorindustrieller Zeit. Die Urväter des Liberalismus haben bei weitem nicht alles vorhergesehen. Sie waren brillante Denker, aber keine Propheten.
Was sich nicht erneuert, ist tot, zumindest aber lethargisch. Daher kündet das obige Zitat Hayeks von liberaler Lethargie. Will man daraus Erwachen, schreit das nach Aufbruch. Der aber kann nur gelingen, wenn der Ausgangspunkt und das Ziel liberalen Denkens klar sind. Dazu muss man „zuerst vor der eigenen Haustür kehren“, ganz im Sinne des „Colloque Walter Lippmann“, das 1938 in Paris bereits einmal diese Erneuerung ins Leben gerufen hat und das als Nukleus des Neoliberalismus und seiner späteren Spielarten gilt.[8]
Verfolgt man die oft „selbstquälerischen Debatten“ der „Neoliberalen“ dort, findet man nichts von dem, was dem „Neo-Liberalismus“ heute allem von linken, rechten und religiösen Fundamentalisten vorgeworfen wird: nichts von einer „arroganten Philosophie“, nichts von „der Ökonomisierung aller Lebensbereiche“, nichts von der Forderung nach einem „ungezügelten Markt“. Das „neo-liberale“ Feindbild der Linken entsteht erst Ende der 70er Jahre, nachdem die Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan auf umfassende Privatisierung, Vermarktlichung und die Deregulierung der Finanzmärkte setzte[9]. Dieser „Neo-Liberalismus“ ist jedoch tatsächlich ein „Neo-Neo-Liberalismus“.[10] Ist eindeutig dieser Typus gemeint, wird er zur Unterscheidung mit Bindestrich als „Neo-Liberalismus“ geschrieben, auch in Zitaten.
Heute schreiben die Linken ihren Kampfbegriff dennoch „Neoliberalismus“, weil sie den ursprünglichen Neoliberalismus bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Sahra Wagenknecht) ignorieren. Ihr Neo-Liberalismus der alten weißen Männer ist vor allem in der feministischen Version an die Stelle des Kapitalismus getreten, auch weil Kapitalisten das Wort „Kapitalismus“ seit dem Niedergang des Sozialismus mit Stolz verwenden. Der Kapitalismus hat gesiegt und jahrzehntelange Prophezeiungen der Linken über seinen Untergang sind gescheitert, aus Sicht der Linken allerdings nur vorerst. Die Linke braucht daher einen neuen Feind, den sie glaubt besiegen zu können, ideologisch und real: den „Neo-Liberalismus“. Dieser (Neo-)Neo-Liberalismus hat wie der ursprüngliche Neoliberalismus seine Wurzeln im Klassischen Liberalismus. Damit trägt auch er die Last der Geschichte aller liberalen Bewegungen.
Um diese Geschichte geht es hier. Dennoch bezieht sich der Beitrag meist auf zeitgenössische Quellen. Im Stil lehnt er sich an wissenschaftliches Vorgehen an, ohne dessen ganzer Strenge zu genügen. Relevanz geht hier vor Eleganz. Geboten wird eine geerdete politische Philosophie mit Bildern zum Anfassen.
Wer sich fragt, warum die Auseinandersetzung in diesem Essay vor allem mit der Linken stattfindet: Das liegt allein daran, dass die anti-akademische Rechte intellektuell zu wenig zu bieten hat und die religiösen Fundamentalisten geistig isoliert und esoterisch daherkommen. Da hat die geistige Auseinandersetzung weder Angriffspunkt noch Reiz. Die rechten Anti-Liberalen sind mangels ideologischer Masse sogar fast indiskutabel. Daher bleiben eben fast nur noch die Linken.
Und auch da ist die Auseinandersetzung nicht leicht. Denn „Linke bleiben gerne unter sich. Man trifft sich auf den immer gleichen Podien, man verleiht sich gegenseitig Preise für den Mut, Dinge auszusprechen, mit denen alle einverstanden sind. Das verhindert aber eine offene Debattenkultur.“[11]
Da bleibt nichts anderes, als eine solche Debatte zu eröffnen: in der Hoffnung, dass andere darauf reagieren und auch Gegner des Liberalismus den Versuch machen, sich offen mit den Argumenten auseinanderzusetzen, auch wenn ihnen das außerhalb ihrer dogmatischen Scheuklappen und Vorurteile schwerzufallen scheint.
Das Folgende bietet eine kritische Selbstbespiegelung des Liberalismus, die auch vielen Liberalen nicht immer schmecken wird. Die neun Teile, beginnen mit einem Grundlagenteil (Neschle 85). Es folgen sieben „Erbsünden“ (Neschle 86-92), die von Gegnern des Liberalismus zum Teil als „Todsünden“ verstanden werden Nicht alle dieser Sünden sind dem Liberalismus in die Wiege gelegt. Einige werden ihm von seinen Gegnern und von Liberalen selbst nur zugeschrieben, insbesondere durch Verwechslung von Liberalen mit Libertären, die Missachtung der ursprünglichen Neoliberalen um die Freiburger Schule und die Überrepräsentanz der (Neo-)Neo-Liberalen der Chicago School bei Gegnern der Liberalen, die ein besseres Ziel für sie bieten. Dieses Essay endet mit einem zusammenfassenden Überblick (Neschle 93) und einem Ausblick in die weitere Entwicklung des Liberalismus.
Dass dieser Beitrag entstanden ist, habe ich vor allem zwei Menschen zu verdanken: Xorto Erdogan, der mich fast gezwungen hat, meine Gedanken zum Liberalismus aufzuschreiben, und Dr. Arthur Dill, der nicht nur meine technischen Defizite ausgeglichen hat. Ohne seinen Zuspruch und den seiner Familie wäre der Neschle in der Versenkung verschwunden. Danke von Herzen!
[1] Christoph David Piorkowski, Forschung über Ursachen der Krise – Liberale Demokratien in Bedrängnis, https://www.tagesspiegel.de/wissen/forschung-ueber-ursachen-der-krise-liberale-demokratien-in-bedraengnis/24521584.html. (21.03.20) Vgl. dort auch das Folgende.
[2] Vgl. dazu den Bericht der Tagesschau „Transformationsindex – Autokratien auf dem Vormarsch“ über eine Bertelmann-Studie, https://www.tagesschau.de/inland/bertelsmann-studie-autokratien-101.html. (29.04.2020)
[3] Yuval Noah Harari, Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen, 9. Auflage München 2019, S.512. Die Behauptung ist schon überraschend in einem Buch, dessen Autor an anderer Stelle (S. 78) schreibt: „Viele Wissenschaftler versuchen vorherzusagen, wie die Welt im Jahr 2100 oder2200 aussehen wird. Das ist reine Zeitverschwendung.“
[4] Zitiert nach Clemens Schneider, Ein neuer Ungeist lockt Menschen in die Selbstentmündigung, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article192141493/Clemens-Schneider-Liberale-muessen-einen-neuen-Ungeist-bekaempfen.html. (09.01.20) Eine leicht abweichende Übersetzung bei Friedrich August von Hayek, Die Intellektuellen und der Sozialismus (Teil 2), https://www.misesde.org/2015/09/die-intellektuellen-und-der-sozialismus-teil-2/. (12.01.20)
[5] Vgl. Christoph Seils, FDP – Intellektuell blank, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-06/fdp-krise-liberalismus-hannah-arendt.
[6] Damit haben auch andere Mühe, etwa Robert Nef, Der Liberalismus ist tot – aber was ist die Alternative, https://www.luzernerzeitung.ch/meinung/was-wird-als-alternative-zur-offenen-gesellschaft-mit-privateigentum-wirtschaftsfreiheit-und-marktwirtschaft-angeboten-ld.1166595. (28.04.2020)
[7] Karl-Heinz Paqué, Der Liberalismus lebt. Er braucht keine Erneuerung, https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus183442612/Die-Kraft-der-FDP-Der-Liberalismus-lebt-Er-braucht-keine-Erneuerung.html. (20.04.2020)
[8] Vgl. dazu Karen Horn, Geboren aus der Krise, Der Neoliberalismus wird achtzig, https://www.faz.net/aktuell/finanzen/finanzmarkt/neoliberalismus-wird-achtzig-geboren-aus-dem-geist-der-krise-15733799.html. Dort auch das Folgende dieses Absatzes. (21.01.20)
[9] Vgl. dazu Andreas Reckwitz, Neoliberalismus – Der Markt unserer Wünsche, https://www.zeit.de/2018/49/neoliberalismus-postindustrielle-gesellschaft-polarisierung-beschaeftigungsstruktur-vermarktung-alltagskultur. (24.01.20)
[10] So auch Dieter Schnaas, Liberalismus – Der Sinn der Freiheit, https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Dieter+Schnaas%2C+Liberalismus+%E2%80%93+Der+Sinn+der+Freiheit. (23.03.20)
[11] Ninve Ermagan, Güner Balci – Diese Frau weiß genau, wie es Migranten in Berlin-Neukölln geht. https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus213737354/Guener-Balci-Diese-Frau-weiss-genau-wie-es-Migranten-in-Berlin-Neukoelln-geht.html?notify=success_subscription. (18.08.2020)
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