Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden
Teil 5
„Der Markt kann gar kein Klimakiller sein, weil es ihn für freie Umweltgüter nicht gibt. Da hat er ein perfektes Alibi.“ (Neschle)
Die vierte Erbsünde: Umweltschmutz statt Umweltschutz
Hier gibt es keine Ausflüchte: Die vierte Erbsünde ist anders als die dritte den Liberalen nicht angedichtet, sie ist genetisch bedingt und kam mit der Geburt des Liberalismus. Ihre Quelle ist schlichte Unwissenheit.
Dem Liberalismus fehlt die Gnade der späten Geburt. In der vorindustriellen Zeit seiner Entstehung bestanden viele Bereiche der Umwelt im ökonomischen Denken aus „freien Gütern“, die kostenlos und in beliebiger Menge zur Verfügung standen. Das betraf nicht alle Teile der Umwelt: Für Grund und Boden oder Schürfrechte war damals schon ein Preis fällig und dort, wo man Wasser verknappen konnte, musste die Wasserzufuhr bezahlt werden. Luftverschmutzung spielte im vorindustriellen Zeitalter kaum eine Rolle, Wasserverschmutzung durch Schlachtabfälle oder Gerberei war ein lokales Problem und wurde, wenn das Wasser ungenießbar war, auch von Kindern mit dünnem Bier heruntergespült.
Die Produktionsfaktoren beschränkten sich auf Arbeit, Boden und Kapital. Dabei stand der „Boden“ eher für Bodenschätze als für Grund und Boden und das „Kapital“ aus vorindustriellen Maschinen und maschinellen Anlagen. Über Umweltschutz machte man sich bei der Entwicklung der liberalen Ideen in der noch dampfmaschinenlosen Zeit kaum Gedanken.
Warum der Liberalismus dieses Problem nicht schon in seinen Anfängen auf seine Fahnen schrieb, als es in der öffentlichen Diskussion noch keine Rolle spielte, ist ein müßiger Vorwurf. Mit demselben Un-Recht könnte man fragen, warum man sich nicht schon beim ersten Computer Gedanken über Probleme und Folgen des Internets gemacht hat. Umweltschutz und Klimapolitik waren damals keine relevanten Fragen, schon gar nicht in ihren weltweiten Auswirkungen.
Viel eher und viel deutlicher muss dieser Vorwurf den Sozialismus treffen. Der ist ein jüngeres Produkt der Industriegesellschaft, die trotz anderer Umstände das Umweltgebaren des vorindustriellen Zeitalters fortführte mit viel gravierenderen Folgen für die Umwelt. Dazu war der Fokus von Karl Marx und anderen zu sehr auf die soziale Frage gerichtet. Dass die Industrialisierung zu Umweltproblemen führen würde, war schon früh ersichtlich, lag aber außerhalb der Wahrnehmung sozialistischer Theoretiker. Wenn es ihnen doch zu Bewusstsein kam, wurde es im Vergleich zu den brisanten sozialen Konflikten als Petitesse betrachtet.
In den sozialistischen Ländern wurde die Schwerindustrie noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein befeuert und gefeiert: trotz der weithin sichtbaren Zeichen der Umweltverschmutzung und trotz der Tatsache, dass die scheinbar fortschrittliche DDR „Umweltschutz“ schon 1972 in ihrer Verfassung festschrieb.[1] Zugleich gab es jedoch ein Verbot zur Auslösung von Smog-Alarm. Die Realität war nämlich gravierend anders als das Verfassungsgebot. Diese Realität sollten die Genossen nicht zur Kenntnis nehmen:
- Nur zwei Drittel des Trinkwassers gelangte zu den Verbrauchern, der Rest versickerte im maroden Netz.
- Jeder zweite Fluss war biologisch tot, das Bootfahren zum Teil verboten.
- 80% des Energiebedarfs wurde mit Braunkohle gedeckt, die mit einem niedrigen Wirkungsgrad von 20% in Strom umgewandelt wurde (BRD über 35%).
- Der CO2-Ausstoß pro Kopf lag trotz niedrigeren Güterverbrauchs mit 19 Tonnen pro Jahr deutlich über dem der BRD (11,5).
- Die Belastung der Fläche mit Schwefeldioxid war 15 mal, die mit Feinstaub 10 mal so hoch wie in der BRD, im Wesentlichen bedingt durch die ineffiziente Energieerzeugung. Die deutlich geringere Verkehrsdichte führte zu einem leichten Plus der DDR bei den Stickoxiden (3,8 versus 4,1 t/km2).
- Das wichtigste umweltpolitische Plus der DDR war jedoch eine erzwungene Folge von Rohstoff- und Devisenmangel: weniger Verpackung und geringeres Müllaufkommen. Hinzu kam die Sekundärrohstofferfassung.[2] Heute könnte ein solches System Kern aber durchaus einer Cradle-to-Cradle[3] Kreislaufwirtschaft werden.
Rauchende Schornsteine waren und blieben die Ikonen des sozialistischen Wegs. Auf dem Weg von Kohle und Stahl identifizierte man sie mit „Fortschritt! Fortschritt! Fortschritt!“. Kaum jemand thematisierte, dass nachfolgende Generationen das Nachsehen haben könnten, weil man ihnen mit diesem „Fortschritt“ Mittel entzog und damit die Freiheit, diese einzusetzen. Noch heute geistern durch meine Erinnerung Gemälde und Fotos aus Gängen und Amtszimmern der DDR, in denen unzählige schwarz-grau qualmende Schornsteine den Sieg des Sozialismus verkündeten.
Solche Darstellungen gab es auch im Westen, etwa in den IHKs großer Revierstädte, aber in viel kleinerer Zahl und fast immer aus Zeiten der Wende ins 20. Jahrhundert, weit vor der Gründung der DDR. Niemand brüstete sich dort zu „Lebzeiten der DDR“ noch mit qualmenden Schloten als Signalen wirtschaftlichen Fortschritts. Die waren in der BRD als Problem erkannt und benannt. Als in kapitalistischen Ländern bei den Tagebaubetrieben längst Renaturierung angesagt war, sah es in den sozialistischen Ländern noch aus wie zu Beginn der Industrialisierung. Bei polnischen und russischen Kohlekraftwerken nimmt man noch heute diese Relikte des Sozialismus wahr.
Wer angesichts dessen von „klimazerstörenden Kohlekapitalismus“[4] redet, der verzerrt nicht nur die Realität, der stellt die Tatsachen auf den Kopf. Und wer den Geruch der Trabbis noch in der Nase hat, kann nicht verstehen, dass Anhänger der Klimaschutzbewegung unsere Umwelt- und Klimaprobleme der Marktwirtschaft und dem Kapitalismus zuschreiben, auch weil China derzeit noch mit Abstand der größte Emittent von CO2 ist.
Indirekt zielen die Klimaschützer damit gegen den (Neo-)Liberalismus und machen ihn zur Brutstätte aller Klimakiller. Alles was kaltherzig, raffgierig und umweltschädlich ist, alles Böse dieser Welt wird in seinen Ursprüngen dem Neo-Liberalismus angelastet. Emotional, oft hasserfüllt und auf der Basis tiefer Unwissenheit!
Der Neo-Liberalismus und die weißen alten Männer haben „das Kapital“ abgelöst, wer oder was immer „das Kapital“ war und was immer unter „Neo-Liberalismus“ verstanden wird oder eben nicht. Dabei wird unterstellt: „Neo-liberale Politiker hätten gewissermaßen den Schalter umgelegt und die Gesellschaft nach ihren Modellen geformt“, so wie es Linke nach einer Revolution von linken Politikern erwarten: Man brauche daher „im Kern lediglich einen Paradigmenwechsel der staatlichen Politik“[5] und schon wird alles gut im Sinne des Umwelt- und Klimaschutzes. Doch geht das noch so einfach?
Mit der Informations- und Wissensgesellschaft hat sich vieles in der Technologie und im sozialen Gefüge verändert, auf das die Politik nur noch bedingt Einfluss haben kann. Das betrifft auch das Umweltverhalten und die Einstellung der Bevölkerung dazu. Dass eine linke Regierung sich hierbei positiv bemerkbar machen würde, wurde immer wieder eindrucksvoll widerlegt, doch niemals bestätigt.
Die westlichen Demokratien haben einen – vielleicht zu zögerlichen – ökologischen Turnaround eingeläutet. Doch da dominierten im Sozialismus noch immer die Mangelversorgung der Bevölkerung und der marode Zustand der Gebäude. Was die Ein- und Auswirkungen menschlichen Handelns auf Natur und Umwelt angeht, steckt allerdings heute auch ein gehöriger Teil der Liberalen im Dornröschenschlaf oder spielt mit im Theater der angeblich weisen Affen: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen.
Impulse für Umwelt-, Tier- und Klimaschutz gingen fast nur von Liberalen aus, die sich den Grünen anschlossen und dort den Realo-Flügel bilden. Sie sahen sich in ihrer Partei zunächst scharfen Auseinandersetzungen mit Öko-Fundamentalisten ausgesetzt, den „Fundis“. Die befürworteten linken Staatsdirigismus oder gar eine Ökodiktatur und behielten lange Zeit die Oberhand.
Liberale Lösungen im Umweltschutz ringen jedoch auch bei den Realo-Grünen bis heute um Akzeptanz. Manche Umweltfundis finden es nämlich geradezu als amoralisch, wenn „Rechte zur Verschmutzung der Umwelt“ gehandelt werden. Nach ihrer Ansicht hat überhaupt niemand das Recht, die Umwelt zu verschmutzen. Also darf so ein „Recht“, das es gar nicht geben darf, auch nicht mit einem Preis versehen und auf einem Markt gehandelt werden.
Konsequent zu Ende gedacht, hieße dieses absolute Verschmutzungsverbot: Der Mensch muss aufhören zu atmen und Nachwuchs zu zeugen. Eigentlich muss er sich selbst von der Erde tilgen, selbst wenn ihm da kein (Corona-)Virus zu Hilfe kommt. Akzeptiert man dagegen, dass bei fast jeder Tätigkeit von Menschen ein Ge- und Verbrauch der Umwelt im Spiel ist, stellt sich das Problem völlig anders. Dann geht es nicht um das grundsätzliche Verbot der Umweltnutzung, sondern um ein System von Regeln, das durchaus auch Verbote und Verpflichtungen (z.B. zur Renaturierung) einschließen kann, generell aber auch beinhalten kann, zu welchen Preisen eine Nutzung von Umweltgütern erfolgen darf. Bei „freien“ Umweltgütern der vorindustriellen Zeit stellte sich diese Frage nicht.
Dass angesichts der Auswirkungen der Umweltnutzung dieser Preis nicht mehr „Null“ sein darf wie bei den freien Umweltgütern der Vergangenheit, dürfte klar sein. Und die von Ökofreaks und Linken befürwortete Straf-Besteuerung der Umweltnutzung ist ökonomisch sogar fast dasselbe, mit einer wichtigen Ausnahme: Diese Steuer hat den Charakter des starren Preises einer staatlichen Zentralverwaltungswirtschaft mit allen Nachteilen von Fehlallokation und Inflexibilität, wenn sich die ökologischen Verhältnisse wandeln.
Während für die radikale Linke (die Rechte macht sich kaum einen Kopf darum) die Ursache für Umweltschäden im Marktradikalismus liegt, ist es für Liberale umgekehrt der bei Umweltgütern bislang noch (weitgehend) fehlende Markt, so dass sich die Umweltnutzung nicht im Preis wiederfindet.[6]
Dasselbe gilt für die Produktion von Umweltgütern, die Umweltschäden beseitigen und die Klimabilanz verbessern. Dort wo Waldbesitzer der Luft CO2 entziehen, könnte für positive CO2-Bilanzen ein Marktpreis ermittelt werden anstelle einer staatlichen Prämie oder Subvention[7] als Gegenstück zur Besteuerung. Doch derzeit gibt es für diese positiven Wirkungen nicht einen Euro. Der Fokus liegt auf der Bestrafung für Verschmutzung, nicht auf der Belohnung für Verbesserungen der Umweltbilanz. Das macht die Taten von Umwelt- und Klimaschützern negativ und verbotsbelastet. Auf einem Markt für Umweltleistungen gibt es beides: Peitsche für die Sünder und Zuckerbrot für die Engel.
Doch trotz mangelnder Flexibilität und fraglicher Kompetenz staatlicher Behörden ist eine staatliche Subvention in den Augen der Linken und vieler Grüner besser als eine marktwirtschaftliche Lösung, die sich flexibel auf Urteile und Erwartungen der Betroffenen stützt. Marktlösungen haben aus linker Sicht immer etwas von „Manipulation“. Dabei bedeuten sie nicht einmal einen Verzicht auf staatliche Kontrolle von Marktbedingungen und Marktregeln. Doch aus linker Sicht ist ja der Markt selbst der personalisierte Umwelt- und Klimaschädling Nummer 1.
Wie aber können linke Umweltschützer den Markt auch dort für Umweltverschmutzung verantwortlich machen, wo ein Markt (noch) gar nicht existiert? Es entbehrt jeder Logik, „Marktradikalismus“ haftbar zu machen, wo der Markt nicht zum Einsatz kommt und man ihn aus scheinbar moralischen Gründen (Kein Recht für Verschmutzung, für niemanden!) auch nicht zum Einsatz kommen lassen will. Da hat Verdächtige „Klimakiller Markt“ ein schmutzwasserdichtes Alibi.
Dennoch wird „der Markt“ beschuldigt, Beschleuniger der Umweltverschmutzung zu sein, ja sogar eigentlicher Verursacher. Dabei hat der universelle Problemlöser der Linken, der Staat, kaum Lösungen parat und es vielfach versäumt, in die Rahmenbedingungen der Märkte einzugreifen und Marktlösungen zu Umwelt- und Klimaschutz zu ermöglichen, zu fördern oder zu verbessern. Auch deshalb steht „der Markt“ oft als Verlierer da.
Bei Liberalen stehen Marktlösungen im Vordergrund. Ein Handel mit Verschmutzungszertifikaten, etwa bei CO2, sorgt je nach Nachfrage und gesetzlicher Angebotsbegrenzung der Schadstoffmenge für positive und flexible Marktpreise und Kosten für dessen „Nutzung“. Die von den meisten Linken bevorzugte Alternative der Besteuerung hat demgegenüber zwei gravierende Nachteile:
1. Sie diktiert einen staatlichen Preis, der nicht kontrollierte Mengenwirkungen hat. Je nach Höhe der Steuer kommt es zu einem mehr oder weniger hohen Verbrauch an Umweltgütern. Doch es geht beim Umweltschutz um Schadstoff-Mengen! Daher ist der steuerliche Ansatz beim Preis weniger zielführend und das Flexibilitätsproblem kann bei steigendem Bürokratieaufwand nur durch (ständige) Anpassung der Steuer abgemildert werden. Dennoch bevorzugt die reale Politik oft die steuerliche Lösung, weil sie in der Regel schneller und im nationalen Alleingang zu realisieren ist.[8]
2. Die Marktlösung geht von einer noch als „akzeptabel“ angenommen Schadstoffmenge aus und flexibilisiert den Preis. Eine starre staatliche Preisvorgabe durch Steuern hat dagegen alle Mängel einer dirigistischen Wirtschaft: Anders als im Marktpreis sind die Erwartungen der Marktteilnehmer nicht in die Besteuerungshöhe integrierbar; anders als bei der Marktlösung sorgen steigende Umweltbelastungen nicht schon durch die Erwartung für höhere Preise und Kosten. Daher verhindert eine Steuer antizipierende Aktionen.
Bei ökologischen Veränderungen ist die Steuer ein Garant für verspätete Re-Aktionen. Am Markt wird dagegen frühzeitig agiert als Folge stärkerer Zertifikatsnachfrage auf der Basis der Erwartungen der Marktteilnehmer. Zudem kann das Preisniveau der Zertifikate staatlicherseits durch Veränderung der erlaubten Gesamtschadstoffmenge reguliert werden. Markt heißt also nicht Einflusslosigkeit des Staates. Vielmehr ist der Markt ein flexibleres Mittel staatlicher Umweltpolitik.
Da die Verschmutzung der Umwelt in dieser Welt auf offene Grenzen stößt, verlangt der Umweltschutz Globalisierung. Offenen Grenzen für Schadstoffe kann man sich nur mit einer globalen Politik stellen. Das ist nicht anders als bei Fragen des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs und dessen Besteuerung oder bei Fragen der Migration. Globale Proteste allein machen noch keine globale Politik, vor allem wenn solche Proteste von Globalisierungsgegnern angeführt werden und gerade in Hochschadstoffländern wie China unterdrückt werden.
Viel lauter als den Ruf nach Besteuerung hört man aber bei den Grünen von vielen Fundis den Schrei nach Zwangsverpflichtungen, vor allem aber nach Verboten. Sogar der Liberale kann mit staatlichen Verpflichtungen und Verboten leben.[9] Denn: „Es gibt keinen simplen Widerspruch zwischen Liberalismus und Verbot.“[10] Der Liberale verbietet und verpflichtet ausnahmsweise sogar gerne, wenn der Schutz des Lebens und der Freiheit anders nicht möglich ist, z.B. bei einer allgemeinen Impfpflicht, bei Versammlungsverboten angesichts einer Pandemie oder beim Verbot von Kinderpornographie.
Bei der Corona-Pandemie schreit unser Land förmlich nach Verboten, auch weil dessen Bewohner zu individueller sozialer Verantwortung unfähig scheinen. Was die Schweden angesichts der Pandemie an Freiheit mit Verantwortung genießen, ersetzt man nicht nur in Deutschland durch dirigistische Einschränkungen der Freiheit und Kontakt-Verbote. Schon dem Ur-Liberalen John Stuart Mill war allerdings klar, dass Freiheit zum Selbstschutz eingeschränkt werden darf, denn die eigene Freiheit darf nicht auf Kosten anderer ausgelebt werden.[11]
Im Umweltschutz sind Verbote das Mittel der Wahl, wo die persönliche Freiheit nicht mehr mit persönlicher Verantwortung zu koppeln ist, wo etwa durch individuelles Handeln Schäden entstehen, die dem Verursacher nicht zur persönlichen Verantwortung und Haftung angelastet werden können. Da ist etwa die Frage der „Fernverantwortung“ für Klimaschäden. Doch bevor der Liberale für Verbote stimmt, muss er überzeugt davon sein, dass eine andere Lösung nicht sinnvoller ist:[12]
„Eine liberale Wirtschaftspolitik zeichnet sich deshalb nicht dadurch aus, möglichst viele Anreize zu setzen und möglichst wenige Verbote auszusprechen, sondern dadurch, dass sie gut begründen kann, warum sie sich von Fall zu Fall einmischt.“[13]
Ein Verbot ist nie das erste Mittel, das dem Liberalen einfällt. Statt nach einer schieren Menge „Mehr Verbote!!!“ zu rufen – das gibt es tatsächlich[14] –, geht es bei Verboten vor allem um zwei Dinge: deren (Regulierungs-)Qualität und deren Durchsetzbarkeit. Mehr Verbote allein, ohne nach deren Qualität und Durchsetzbarkeit zu fragen, macht Politik unglaubwürdig. Es macht Politik schwach, weil solche Verbote zu Übertretungen anreizen, den Staat lächerlich machen und anfällig für weitere Übertretungen. So wird die Überforderung des Staates offensichtlich und Staatsversagen vorprogrammiert.
Nicht zuletzt bei den Verboten entscheidet sich die Frage, inwieweit auch Grüne Liberale sind. Eine „Verbotspartei“, die diesen Namen verdient, kann nicht liberal sein und auf die Freiheit der Einzelnen setzen. Schon gar keine, die überall und schlicht „Mehr Verbote!“ fordert mit Freiheitsbeschränkungen für jeden einzelnen Bürger sowie vermeidbaren Bürokratiekosten für Staat und Bürger.
Die Grünen versuchen es aber nicht nur mit Verboten. In Vilshofen gibt es grüne Hausnummern für „nachhaltige Haushalte“.[15] Dasselbe gilt für fünfzehn Regionen in Niedersachsen bei Gebäuden, die„vorbildlich saniert oder gebaut“ wurden“.[16] Das kommt arglos daher. Natürlich ist es von gutmenschlicher Gesinnungsethik getragen, also „gut gemeint“ und entlastend für das Öko-Gewissen seiner Befürworter.
Doch eine weiter- und tieferreichende Folgenethik hat damit Probleme. Denn dies kann der Einstieg in ein Sozialkreditsystem a la China sein; ein Pestzeichen oder Judenstern verkehrt herum, um alle Guten einzugrenzen und Ökosünder zu stigmatisieren und sozial ausgrenzen. Die politische Wirkung ist illiberal, die Logik dahinter widersprüchlich. Denn gerade von Seiten der Grünen werden immer wieder Diskriminierungsverbote gefordert. Doch offenbar nicht für die eigene Ideologie!? Damit aber werden Prinzipien für andere gesetzt, die man nicht einhält, wenn es um das Erreichen eigener Ziele geht.
Das gilt auch bei der sozialen Frage, Ob sich sozial Schwache grün-ökologisches Verhalten überhaupt leisten können[17], wird viel zu selten diskutiert. Die soziale Frage wird von Umwelt- und Klimaschutz völlig dominiert. Längst (Studie von 2013) sind die Grünen eine, wenn nicht gar die Partei der Besserverdienenden. Der „Anteil der Topverdiener liegt damit auch deutlich über dem der FDP“[18], obwohl Grünen das angeblich gar nicht wollen.[19] Dennoch hat ihre Politik dazu beigetragen, ökologisches Handeln für viele zum Luxusproblem zu machen: Nur wer sich leisten kann, sich auf die Umwelt- und Klimapolitik einzulassen, der kann in deren Geschäftsfelder investieren, Renditen erzielen, Steuervorteile realisieren und Umweltprämien kassieren. Wer nicht, der nicht. Der muss sogar dafür sorgen, dass die Renditen, Steuervorteile und Umweltprämien derjenigen finanziert werden, die sich diese Umweltpolitik leisten können
Die unsozialen Folgen von Umwelt- und Klimaschutzpolitik ignorieren Klima- und Umweltschützer allzu häufig. Bei den Kompensationen gibt es nur ein unausgegorenes „Könnte“, etwa die „Idee einer Klimadividende“[20] oder den Versuch der SPD, in einem „Klimapaket“ gestiegene Heiz- und Mobilitätskosten durch die Verbilligung von Strom aufzufangen[21]. Dabei bleibt die unterschiedliche Belastung der Heizungsformen ebenso unberücksichtigt wie die Tatsache, dass eine künftige(!)Stromvergünstigung – bislang wird der Strom gerade in Deutschland immer teurer – im Normalfall die Zusatzbelastungen für Heizung nicht einmal näherungsweise decken kann. Zusätzliche Bürokratiekosten und die Personalnöte der öffentlichen Hand nach Quantität und Qualität werden unterschlagen oder kleingeredet.
Obwohl heute fast ausschließlich ländliche Regionen die Quellen regenerativer Energien (Wind- und Solarenergie, Biogas und Biokohle) sind, werden diese Regionen durch grüne Politik benachteiligt, etwa bei der Mobilität. Die jüngsten Erhöhungen beim CO2-Preis und beabsichtigte bei den Fleischpreisen gehen vor allem zu Lasten der Geringverdiener[22]. Es trifft etwa die Rentner auf dem Land[23], auch wenn der pauschal geschönte Musterfall nur einen Euro im Monat mehr für das Klimapaket bei einem allein lebenden Rentner verspricht und die Presse den pauschalen Musterzahlen Relevanz für jeden einzelnen Haushalt zuschreibt.[24]
Auch in Bezug auf liberale Lösungen bei Umwelt- und Klimaschutz wird der „grünen Bourgeoisie“ eine widersprüchliche Haltung vorgeworfen: Auf der einen Seite sei sie zwar gesellschaftspolitisch liberal, auf der anderen Seite bei der Sozial- und Wirtschaftspolitik etaistisch, faktisch also immer und nicht nur im Zweifel für einen Staatseingriff, insbesondere für Verbote als Mittel erster Wahl. Dieser „halbierte Liberalismus“ kann nicht für eine „wirklich liberale Partei“ stehen.[25] Dennoch haben Liberale als Realos unter den Grünen mehr gegen die vierte Erbsünde des Liberalismus unternommen als Liberale in allen anderen Parteien.
Mit internen Widersprüchen stehen die Grünen allerdings nicht alleine. Bei denen, die sich „liberal“ nennen, finden sich nicht gerade Wenige, die im Sinne des Liberalismus Machtkontrolle durch Wettbewerb für andere fordern, für sich selbst, ihre Familie und ihre Nachkommen jedoch allzu gern meiden und neue Privilegien aufzubauen suchen, deren Feind der Liberalismus jedoch von Anfang an war.[26] Nach der Beseitigung des alten Feudalismus durch den Liberalismus entsteht so auf seinem eigenen Boden ein Neo-Feudalismus.
[1] Vgl. Alexander Fink, Fabian Kurz, Alexander Mengden, Umweltdesaster DDR: Bitteres aus Bitterfeld, https://de.irefeurope.org/Diskussionsbeitrage/Artikel/article/Umweltdesaster-DDR-Bitteres-aus-Bitterfeld. (10.12 2019) Dort auch das Folgende.
[2] Vgl. Rezension: Institut für Umweltgeschichte und Regionalentwicklung e.V. (Hrsg.), Umweltschutz in der DDR. Analysen und Zeitzeugenberichte, München 2007, https://www.raumnachrichten.de/rezensionen/1436-umwelt-sp-536503071. (11.12.2019)
[3] Vgl. Wikipedia-Artikel Cradle to Cradle, https://de.wikipedia.org/wiki/Cradle_to_Cradle. (02.01.20)
[4] Georg Diez, Corona – Das Neue ist längst da, https://www.zeit.de/kultur/2020-04/neoliberalismus-krisen-kapitalismus-coronavirus-politik. (11.04.20)
[5] Beide Zitate bei Andreas Reckwitz, Neoliberalismus: Der Markt unserer Wünsche, https://www.zeit.de/2018/49/neoliberalismus-postindustrielle-gesellschaft-polarisierung-beschaeftigungsstruktur-vermarktung-alltagskultur. (20.01.20)
[6] So auch Lisa Herzog, Freiheit gehört nicht nur den Reichen, Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus, 2. Auflage München 2018, S. 148.
[7] Vgl. Neue Idee im Kampf gegen CO2: Laschet will Waldbesitzern Prämie zahlen. https://www.n-tv.de/politik/Laschet-will-Waldbesitzern-Praemie-zahlen-article21170814.html. (02.02.2020)
[8] Vgl. ohne Verfasser, Preis oder Steuer für CO2 – was ist besser?, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/modelle-co2-101.html. (19.12.19)
[9] Vgl. auch René Rhinow, Ökologie gehört zum Freisinn, https://www.nzz.ch/meinung/oekologie-gehoert-zum-freisinn-ld.1523186. (08.01.20)
[10] Christian Stöcker, Freiheit vs. Klimaschutz – Was heißt das eigentlich noch, „liberal“, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/freiheit-vs-klimaschutz-was-heisst-das-eigentlich-noch-liberal-a-1280165.html. (27.04.2020)
[11] Ebenda.
[12] Auf die Probleme der allgemeinen Zuordnung von Freiheit und Verantwortung weist besonders deutlich hin: Felix Heidenreich, Ist der Liberalismus noch zu retten?, https://www.academia.edu/28952295/Ist_der_Liberalismus_noch_zu_retten. (20.03.2020)
[13] Dieter Schnaas, Liberalismus – Der Sinn der Freiheit, Abschnitt „Die dreifache Rolle des Liberalismus“, https://www.wiwo.de/politik/deutschland/liberalismus-der-sinn-der-freiheit/8881474.html. (22.03.20)
[14] Vgl. Vgl. etwa Mely Kiyak, Bitte, bitte mehr Verbote, https://www.zeit.de/kultur/2019-06/konsumverhalten-verbote-gesetze-veraenderungen-gewohnheit-freiheit. (05.12.19)
[15] Vgl. dazu ohne Verfasser, Öko-Initiative:Vilshofen markiert bald „grüne“ Häuser – CSU-Politiker kocht „China lässt grüßen“, https://www.focus.de/politik/deutschland/oeko-initiative-in-vilshofen-vilshofen-markiert-bald-gruene-haeuser-csu-politiker-kocht-china-laesst-gruessen_id_11437816.html. (09.12.19)
[16] Vgl. Güne Hausnummer 2019, https://www.klimaschutz-niedersachsen.de/umweltbildung-und-projekte/grune-hausnummer.html. (20.01.2020)
[17] Vgl. dazu Bernd Ulrich, Grün ist schön, macht aber viel Arbeit, https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Gr%C3%BCn+ist+sch%C3%B6n%2C+macht+aber+viel+Arbeit. (08.01.20)
[18] Vgl. DIW-Studie Besserverdiener wählen besonders gern die Grünen, https://www.welt.de/politik/deutschland/article119921129/Besserverdiener-waehlen-besonders-gern-die-Gruenen.html. (20.01.2020)
[19] Vgl. dazu Ansgar Graw, zu viele Besserverdiener wollen die Grünen lieber nicht, https://www.welt.de/politik/deutschland/article182457484/Luxus-Umweltschutz-Zu-viele-Besserverdiener-wollen-die-Gruenen-lieber-nicht.html. (23.01.2020)
[20] Vgl. Artikel: CO2-Preis mit Klimadividende, https://de.wikipedia.org/wiki/CO2-Preis_mit_Klimadividende. (24.02.2020)
[21] Vgl. dpa, Höherer CO2-Preis: So viel teurer wird das Heizen, https://www.t-online.de/heim-garten/energie/id_87018470/heizen-wird-ab-2021-teurer-und-das-sind-die-gruende.html. (03.12.2019)
[22] Vgl. dazu DIW-Studie, CO2-Preis trifft Geringverdiener, https://www.tagesschau.de/inland/klimapaket-115.html. (19.12.2019)
[23] Vgl. etwa Axel Wolfsgruber, Urlaubsfragen und AfD-Vergleiche: Plasberg lässt Grünen-Frau Schulze irritiert zurück, https://top.st/de/news/46352430. (19.12.2019).
[24] Vgl. ohne Verfasser, CO2-Steuer – Das bedeutet die Abgabe für Ihren Haushalt, https://www.welt.de/finanzen/verbraucher/article196446481/CO2-Steuer-Das-bedeutet-die-Abgabe-fuer-Ihren-Haushalt.html. (30.01.2020)
[25] Vgl. dazu Andreas Ernst, die grüne Bourgeoisie und ihr halbierter Liberalismus, https://www.nzz.ch/international/die-gruene-bourgeoisie-und-ihr-halbierter-liberalismus-ld.1438711. (20.02.2020)
[26] Vgl. dazu Norbert Tofall, Freiheit und Eigentum – eine sozialphilosophische Analyse, https://austrian-institute.org/de/blog/freiheit-und-eigentum-eine-sozialphilosophische-analyse/. (02.03.30)
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