Leon Neschle 91

Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden

Teil 7

„Der Materialismus ist aus der Zeit gefallen. Längst haben immaterielle Werte eine höhere Bedeutung für die aktive Freiheit.“ (Neschle)

Die sechste Erbsünde: allein passive statt auch aktive Freiheit

„Freiheit ist für mich, wenn ich tun darf, was ich tun kann“, sagte mir mein philosophischer Blumenhändler Christoph Gesthüsen in Winnekendonk, kurz bevor er seinen Blumenladen schließen musste. „Aber was“, fragte ich, „ist das für eine Freiheit, wenn Du nur ganz, ganz wenig oder fast nichts tun kannst, weil Du nur wenige Möglichkeiten dazu hast? Wer mehr tun kann, hat doch auch mehr Freiheit.“ –

Die Philosophie meines Blumenhändlers wird offensichtlich dominiert von der Idee der „negativen“ Freiheit, der „passiven“ Freiheit oder der Freiheit von Einmischung in meine Entscheidungen, sei es durch Einzelpersonen, Kollektive, staatliche oder private Institutionen. Die einseitige Betonung dieser passiven Freiheit ist die sechste Erbsünde des Liberalismus, oft extrem im Wirtschaftsliberalismus.[1] Auch diese Erbsünde ist real und nicht nur von den Gegnern des Liberalismus angedichtet. 

Passive „Freiheit von“ gibt es aber noch in einer zweiten, nichtliberalen Version, unter denen, die einem strikten Dogma folgen oder einer politischen oder religiösen Autorität. Das ist nicht die liberale Freiheit von der Einmischung anderer in das eigene Leben; das ist die Freiheit von „Entscheidungsqualen“ und die Freiheit von persönlicher Verantwortung, die Flucht in die „Sicherheit und Geborgenheit guter Mächte“.[2]Der „gute Diktator“ sorgt als „Gott auf Erden“ immer und für alle, ohne die komplexen und oft langwierigen Entscheidungsprozesse liberaler Demokratien. (Teil 3, Neschle 84)

Diese menschliche Sehnsucht bedienen außerhalb der Gotteshäuser auch die autoritären politischen Strömungen von rechts und links. Da es hier jedoch um Liberalismus geht, ist im Folgenden allein die liberale Version „passiver Freiheit“ als Freiheit von externer Einmischung gemeint, deren Preis allerdings persönliche Verantwortung und persönliche Haftung sind, anders als bei den anarchischen Libertären. (Teil4)

Kritik an der einseitigen Betonung „passiver Freiheit“ durch den Wirtschaftsliberalismus kommt auch von Liberalen. Ein nur passiver Freiheitsbegriff sei typisch für einen „Liberalismus der Furcht“. Diese Furcht vieler Liberaler geht „von einem einzigen moralischen Impuls aus: der Furcht vor ‚institutionalisierter Grausamkeit‘: Folter, Gewalt, Freiheitseinschränkungen aller Art, die eine mächtige Institution (meist der Staat) gegen Einzelne ausübt.“[3]

Aus neoliberaler Sicht kritisiert Rüstow die „ökonomistische Verengung“ dieser passiven Sicht der Freiheit als „Versagen des Wirtschaftsliberalismus“. Hierin liegt der Kern der Abkehr der Neoliberalen vom klassischen Liberalismus, dem sich die „neo-neo-liberale“ Ideologie der Chicago-School wieder annähert, umgesetzt durch Margaret Thatcher und Ronald Reagan.[4] [5]

Neben der passiven „Freiheit von“ gibt es nämlich die „Freiheit für“ oder die „Freiheit zu“[6], eine „positive“ bzw. „aktive“ Freiheit, die den Einzelnen erst in den Stand versetzt, frei im liberalen Sinne zu agieren. Dazu gehören vor allem der Zugang zu elementarer Bildung und eine soziale Grundsicherung. In den USA gilt allerdings der bescheidene Appell „dass in einer modernen, moralischen und reichen Gesellschaft in Amerika kein Mensch zu arm zum Leben sein sollte“ vor allem bei Republikanern oft schon als „sozialistische Forderung“.[7]

Passive und aktive Freiheit ergänzen einander, sind zuweilen sogar schwer zu trennen. So wird die Rede- und Versammlungsfreiheit der passiven Freiheit von Einmischung zugrechnet, das Recht zur politischen Mitwirkung aber zur aktiven, obwohl das eine kaum ohne das andere denkbar ist.[8]

Bei der Frage Stellenwertes des aktiven Freiheitsbegriffs geht ein Riss durch die Liberalen.[9] Wer aktive Freiheit betont, distanziert sich von denjenigen, die einem rein passiven Freiheitsbegriff huldigen. Ein sozialliberaler Teil der FDP trat deshalb 1982 zur SPD über nach dem Wechsel der FDP in eine Koalition mit der CDU/CSU und dem inhaltlichen Abschied der FDP von den Freiburger Thesen, die von 1971 bis 1977 ihr linksliberales Grundsatzprogramm darstellten. Heute wenden sich Sozial-oder Linksliberale, die sich den Freiburger Thesen verbunden fühlen, den Realo-Grünen zu oder suchen ihr Heil in neuen Gruppierungen wie „Liberale Demokraten“ oder „Neue Liberale“. 

In der FDP, die vom sozial-liberalen Kurs abgerückt ist, finden sich mit dem Freiburger Kreis und dem Dahrendorf-Kreis noch zwei Gruppierungen, die dem aktiven Freiheitsbegriff der „Erweiterung von Lebenschancen“[10] im Sinne Dahrendorfs verpflichtet sind.[11] Diejenigen Sozialliberalen, die ihre Aktivitäten außerhalb der FDP betreiben, vor allem bei der SPD und bei den Grünen, halten Gruppierungen innerhalb der FDP meist für einfluss- und aussichtslos. In der Mehrheits-FDP haben die sozialen Fragen und der aktive Freiheitsbegriff derzeit nur einen geringen Stellenwert. 

Das kostet die FDP jede Menge Wähler, die zur CDU, SPD oder den Grünen wandern. Denn nur wenige bezweifeln, dass im „Problem sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit … der Grund für die allgemeine Abkehr vom Liberalismus liegt“ und damit in der fehlenden Bedeutung aktiver Freiheit bei denen, die sich als Partei „Die Liberalen“ nennen. Wer allein dem passiven Freiheitsbegriff huldigt, der macht nicht Ernst mit der Verbesserung der Chancengleichheit, selbst wenn es dazu einer Umverteilung nicht bedarf.[12] Wer zudem nur staatliche Eingriffe fürchtet, wird blind gegenüber privater Machtausübung, die bei internationalen Konzernen oft die von Staaten übertrifft. Dagegen muss, wer aktive Freiheit will, auch über Tabus diskutieren, die längst die Aufmerksamkeit des Bundesverfassungsgerichts geweckt haben wie die steuerliche Begünstigung von Unternehmenserben.[13] Denn da werden nicht nur Reichtümer, sondern oft auch Privilegien vererbt. 

Die einseitige Betonung materieller Privilegien ist allerdings typisch für die materialistische Philosophie des Sozialismus, der auf Privilegien durch Eigentum an Geld und Gütern fixiert ist. Nach dem Prinzip „Eigentum ist Diebstahl“ wird dabei alle Verfügung über Vermögen auf den Staat übertragen, zur Nutzung durch alle Staatsbürger. Außer Acht gelassen werden die unterschiedliche Ausstattung der Menschen mit genetischem und geistigem Vermögen, mit Know-what und Know-how, sowie unterschiedliche Neigungen, soziale Kontakte aufzubauen und zu pflegen.

Nur die herausragende Bedeutung dieser natürlichen Ungleichverteilung sowie die hohe Bedeutung des Zufalls, von Glück und von Pech, macht erklärbar, warum die Reichen dieser Welt heute nicht mehr von denjenigen angeführt werden, deren Familien bereits hohe materielle Vermögen in der Vergangenheit angesammelt haben, sondern von Jeff Bezos und Bill Gates. In der Informationsgesellschaft zeigt sich der rein materielle Zugang zur Gleichheit als zu reduziert und fehlgelenkt. Da braucht eher der Sozialismus eine Neuorientierung als der Liberalismus. Denn längst bestimmt nicht mehr das materielle Sein das Bewusstsein. Schon gar nicht allein!

Daher ist Basis einer aktiven Freiheitspolitik im sozialen Liberalismus vor allem eine staatliche Bildungs- und Sozialpolitik. Eine staatlich geförderte Bildungspolitik ist sogar fast unumstritten.[14] Es geht um die Ermöglichung einer freiheitlichen Teilhabe am demokratischen Gemeinwesen. Umständliche Sozialverwaltung und spröde Antragsbürokratie werden jedoch nur mit Widerwillen hingenommen. Unter Liberalen noch weniger akzeptiert, ist ein reines Zuteilungswesen, das wie im realen Sozialismus ungefragt zuteilt, was staatliche Institutionen im Einzelfall „objektiv“ für richtig halten. Der mündige Bürger wird damit zu Unmündigkeit verdammt.

Aktive Freiheit ist dagegen der Versuch, dem Einzelnen mehr Mündigkeit und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Der materialistische Versuch, aktive Freiheit allein durch Vergesellschaftung oder durch Umverteilung der materiellen Basis herzustellen, scheitert aus liberaler Sicht schon an der unterschiedlichen Neigung und Fähigkeit der Menschen, die gleiche materielle Basis zu ihren Gunsten zu nutzen. Welche absurden Folgen absolute „aktive Freiheit“ als ständige Gleichheit der materiellen Startchancen hat, verdeutlicht ein verkürztes Beispiel von Tofall[15]:

Angenommen ein Gemeinwesen besteht aus den Personen A und B mit identischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber ungleichen Neigungen, die jeweils ein Vermögen von 100 haben. Dann herrscht materiellein Zustand gleicher „aktiver Freiheit“ im Sinne der „Freiheit als Möglichkeiten“. Person A entscheide sich nun in t(0), ihr Vermögen vollständig in Kneipen auszugeben, so dass ihr Vermögen zu Beginn der Periode t(1) auf 0 geschrumpft ist. Person B hat sich entschieden, nur 10 in Kneipen auszugeben und 90 so anzulegen, so dass B zu Beginn von t(1) wieder ein Vermögen von 100 zur Verfügung hat. 

Zu Beginn von t(1) herrscht nun kein Zustand, allgemeiner, weil gleicher aktiver Freiheit im Sinne von materiell gleichen Handlungsmöglichkeiten mehr, da die Möglichkeiten von A geringer sind als die von B. In einem Gemeinwesen mit absoluter materieller Chancengleichheit müssen also 50 von B zu A umverteilt werden, um die gleiche Ausgangsverteilung wieder herzustellen, nun freilich auf niedrigerem Niveau.

In einem solchen System werden alle persönlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Neigungen für den Erwerb von Vermögen bedeutungslos. Es gibt daher auch keinerlei Anreize mehr, wirtschaftlich aktiv zu sein. Denn unabhängig davon werden die Vermögen egalisiert. Es gibt kein Eigentum als Basis aktiver Freiheit, denn jeder eigenständige Erwerb wird ex-post annulliert, um ex-ante permanent dieselbe Anfangsausstattung herzustellen.

Wer die Vermögensbasis aktiver Freiheit derart egalitär versteht, führt die aktive Freiheit ad absurdum, weil er die Ergebnisse des unterschiedlichen Einsatzes dieser aktiven Freiheit permanent annulliert. Um den aktiven Freiheitsbegriff zur Geltung zu bringen, bedarf es daher der Relativierung der rein materialistischen Sichtweise. Denn anders als im obigen Beispiel sind auch Fähigkeiten, Fertigkeiten, Informationen, soziale Zuwendung, Empathie, Glück und Pech nicht gleichverteilt. Eine materialistische Philosophie löst dieses Problem nicht, sie geht es nicht einmal an, weil sie es ignoriert. Mehr aktive Freiheit kann[16] nicht mehr nur materielle Gleichheit bedeuten. In einer Welt von Menschen ungleicher Wünsche, Neigungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten erzwingt aktive Freiheit sogar materielle Ungleichheit.

Die Ungleichverteilung des immateriellen geistigen und sozialen Eigentums bleibt nämlich bestehen, auch wenn das materielle Vermögen völlig gleichverteilt ist oder ständig umverteilt wird. Daher kann es nicht nur durch ungleiche Neigung zum Alkohol (wie im Beispiel), sondern auch aus diesen Gründen in der Folge jederzeit zu ungleicher Anfangsausstattung mit materiellen Mitteln kommen. Ohne diese ungleiche Verteilung ist aktive Freiheit nicht zu haben. Das macht materielles Eigentum jedoch nicht bedeutungslos. „Wichtig ist …, dass der Besitz weit genug gestreut ist, so dass der Einzelne nicht von bestimmten Personen abhängig ist“[17]. Doch:

„Jedem wahren Liberalen ist eine Sozialbürokratie, die bedürftige Menschen zu Objekten macht, sie durchleuchtet kujoniert und oft sinnlos antanzen lässt, ein Gräuel.“ „Das sehen auch viele Grüne so, die dem bürokratischen Sozialstaat mit seinen oft entwürdigenden Aktivierungsprozeduren in herzlicher Abneigung verbunden sind“[18] Weder Liberale noch Realo-Grüne teilen daher „die sozialistisch-paternalistische Annahme, Menschen müssten durch bürokratische ‚Fachkräfte‘ des Staates zu ihrem Glück gezwungen werden“.

Ein aktiver Freiheitsbegriff setzt nämlich voraus, dass Menschen grundsätzlich für mündig erklärt werden, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen. Die extreme Linke dagegen nimmt seit Jahrzehnten angeblich die Interessen für die Arbeiterklasse wahr. Sie erklärt den Einzelnen für unmündig, es selbst zu tun, und unterlässt auch den Versuch, ihn durch Förderung seiner aktiven Freiheit mündig(er) zu machen. 

Die aktive Freiheit des Einzelnen hat viele Facetten. Die Wichtigste ist wohl die bildungspolitische. Nicht zufällig hat Deutschland den Linksliberalen, die der aktiven Freiheit hohen Stellenwert geben, „viele Errungenschaften zu verdanken. Die Bildungsexpansion der siebziger Jahre ist zur Voraussetzung heutigen Wohlstands geworden. Mit der Anerkennung homosexueller Paare als gleichwertige Lebenspartnerschaften wurde das Recht sinnvoll modernisiert.“[19]

Wirtschaftlich ist die aktive Freiheit auch mit dem Begriff des geistigen Eigentums verbunden, über den man ein eigenes Buch schreiben könnte. Eigentum ist die wirtschaftliche Basis aktiver Freiheit und der Umgang mit ihr verlangt Verantwortung. Das grundgesetzliche „Eigentum verpflichtet“ (Artikel 14 Absatz 2) ist Ausdruck der liberalen Grundhaltung der Eltern dieses Gesetzes. Er bezieht sich, wenn auch nicht ausdrücklich, nicht nur auf materielles, sondern auch auf geistiges Eigentum. 

Neben solche immateriellen Werte tritt die soziale Teilhabe als Basis aktiver Freiheit. In diesem Zusammenhang werden heute Quotenregelungen diskutiert und realisiert:

„Um die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben zu fördern, verpflichtet das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) alle Arbeitgeber mit mehr als 20 Arbeitsplätzen dazu, mindestens fünf Prozent davon mit schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Arbeitnehmern zu besetzen. Die Regelung greift sowohl für private als auch für öffentliche Arbeitgeber.“[20]

Während die Quote als Mittel aktiver Freiheitspolitik für körperlich Behinderte kaum umstritten ist, gilt das nicht für andere Quoten, die auf eine „soziale Behinderung“ abstellen, wie Frauenquote, Ausländerquote oder welche Quote man sich auch ausdenken mag. Die Möglichkeiten dafür sind schier endlos. Bei denen, die 58 (England, USA) oder gar 60 Gender-Identitäten (Deutschland) unterscheiden[21], wird es sogar widersprüchlich eine „Frauenquote“ zu fordern.

Universitäre Gleichstellungsorgane, die stets von Frauen geleitet und dominiert werden, bemängeln zwar die geringe Anzahl von Professorinnen in der Informatik, bejubeln aber zugleich Frauenquoten von über 80% in der Pädagogik, ohne sich Gedanken über eine Männerquote zu machen.[22] Wenn es aber mit Quotierung und „Gleichstellung“ etwas auf sich hat, müsste genau das geschehen.

Mittlerweile ist fast unbestritten, dass derzeit die intellektuellen Fähigkeiten von Frauen in Deutschland im Durchschnitt eher weiter entwickelt sind als die von Männern. Der Grund dafür könnte bereits in der Erziehung liegen, die überwiegend in der Hand von Frauen liegt, die immer öfter eine feministische Einstellung mitbringen. In der Folge gibt es heute Frauenförderung von klein auf, eine gleichwertige Förderung der Jungen sucht man vergebens. Zwei persönliche Erlebnisse:

  1. Ich war Zeuge einer Diskussion am Rande einer Kita zwischen der Leiterin und einer Mutter, die sich über die Vernachlässigung ihres Sohnes beschwerte. Es war Winter und sehr kalt. Dann sah ich, wie drinnen mehrere Erzieherinnen an einem Tisch mit den Mädchen bastelten, während eine einzige in der Tür stand, um von weitem den Jungen draußen beim Toben zuzusehen.
  2. Ich fragte einen Jungen, warum er nicht gerne und so wenig las. Seine Antwort: „Unsere Lehrerin kennt ja nur Mädchenbücher.“

Wenngleich man diese Fälle nicht verallgemeinern darf: Beide sind ein Zeichen dafür, dass eine weiblich dominierte Erziehung unter dem Vorzeichen des Feminismus eher die Jungen daran hindern kann, in aktiver Freiheit an dieser Gesellschaft teilzuhaben. 

Beide Fälle zeigen auch, dass Mädchen und Jungen durchaus unterschiedliche Neigungen haben. Zugleich sorgen die Spielwarenindustrie und in der Folge die Eltern dafür, dass die Spielwelten von Mädchen und Jungen sich immer weiter voneinander entfernen. Prinzessin Lillifee hat nichts mit den Piraten und Rittern der Jungen zu tun, Mädchenlego und Star Wars sind getrennte Kategorien. In meiner Kindheit waren beide Spielwelten noch viel stärker verzahnt. Man spielte öfter draußen in gemeinsamen Gruppen von Jungen und Mädchen.

Wenn aber Mädchen und Jungen heute schon in ihrer Kindheit etwas völlig anderes tun und sich für andere Dinge interessieren (oder interessiert werden), warum soll das bei Frauen und Männern anderes sein? Die equiquotale Gleichstellung leugnet nicht nur diesen Unterschied, sie richtet ihren Blick auch einseitig auf die Bereiche, in denen Frauen unterrepräsentiert sind. Wo Frauen überrepräsentiert sind, fehlt dagegen jedes Interesse an der Gleichstellung von Männern. Allein eine Unterrepräsentanz von Frauen wird politisch als Beweis für Frauendiskriminierung gewertet und nicht als Folge einer „natürlichen Ungleichheit“ der Interessen gedeutet, während bei Überrepräsentanz von Frauen von Männerdiskriminierung nie die Rede ist.[23] Männer werden nicht diskriminiert: Sie haben halt andere Interessen.

Statistische Unterrepräsentanz deutet offenbar bei Frauen auf ihre Diskriminierung hin, bei Männern jedoch auf andere Lebensentwürfe. Bei Männern wird der Unterschied im Lebensentwurf als Teil ihrer passiven Freiheit respektiert, bei Frauen durch quotale Gleichschaltung mit Männern ideologisch geleugnet. Warum sollen aber Frauen bei ihren Aktivitäten nicht etwas anderes wollen dürfen als Männer? Warum sollte es bei Frauen keine von Männern abweichenden Lebensentwürfe geben, bei Männern aber schon? Diese könnte auch in einem im Durchschnitt geringeren Interesse an parteipolitischer Arbeit liegen:

Bei allen politischen Parteien finden sich derzeit Frauen in der Minderheit.[24] Das reicht Ende 2019 von 41% bei den Grünen über 26,5% bei der CDU bis zu 17,8% bei der AfD. Doch obwohl das allen(!) politischen Parteien so ist, gilt das gerade bei den Parteien mit größerem Frauenanteil (?!) nicht als Zeichen anders gelagerter Interessen von Frauen, sondern als Beweis ihrer anhaltenden Diskriminierung.

Daraus wird abgeleitet, dass in der Führung dieser Parteien 50% Frauen repräsentiert sein müssen, ebenso wie im Ministeramt. Dafür wird die Diskriminierung der männlichen Parteimitglieder in Kauf genommen, die sich in ihrer Parteiführung anteilig schlechter repräsentiert sehen und in ihren Aufstiegschancen benachteiligt sind. 

Was aber, wenn die dominierende Ursache für die geringere Parteimitgliedschaft von Frauen andere Interessenschwerpunkte wären? Sollten Frauen bei der quotalen und sonstigen Förderung, die sie derzeit erfahren auch in absehbarer Zeit bei den Parteien noch in der Minderheit bleiben, kann man eigentlich nur noch das annehmen. Denn Diskriminierung als Grund ist weggefallen und es bleibt der andere Lebensentwurf. Aber im Grunde ist mit der ideologischen Leugnung anderer Interessen als Basis für die Quotenforderung sogar die passive Freiheit von Frauen geächtet, sich ohne ideologische Einmischung andere Lebensziele zu setzen als Männer? Ihre Lebensentwürfe werden von ihren kämpferischen Schwestern mitgeschrieben.

Doch zeigen sich Interessenunterschiede nicht auch in der Berufswahl? Wer es moderner mag, erforsche selbst, wie unterschiedlich die Betätigungsfelder weiblicher und männlicher Influencer sind. Dass diese Tätigkeiten und die klassischen Berufe allen Frauen und Männern offenstehen, beweisen unter anderem die Bundeskanzlerin und männliche Entbindungshelfer („Hebammen“).[25] Und doch gibt es unter deutschen Sterneköchen nur gut 3% Frauen, obwohl Kochen traditionell als weibliche Domäne angesehen wird[26]: Da müssten Frauen nach der feministischen Logik besonders diskriminiert sein? Warum ist dann noch niemand auf „Quoten für Sterneköche“ gekommen? Und wenn Frauenquoten hier nicht angebracht scheinen, warum dann bei anderen Berufen oder Funktionen?

Geschlechterquoten diskriminieren sogar nach Geschlecht, wenn es auf andere Dinge ankommt: auf handwerkliches Geschick oder geistige Fähigkeiten. Damit aber sind die Geschlechterquoten nichts anderes als Sexismus in der klassischen Definition: unbewusste oder bewusste Diskriminierung auf der Basis des Geschlechts.[27]

Nehmen wir z.B. an, jemand fordere, 50% der Sterneköche müssten weiblich sein, egal wie das Verhältnis von Köchinnen und Köchen ist. Diese Quote ist „sexistisch“, weil nicht allein Engagement und Kompetenz entscheiden. Würde in der Folge jemand sagen, Sterneköchinnen seien genau deshalb im Durchschnittweniger kompetent, würde man seine Bemerkung „sexistisch“ nennen, obwohl sie nur die Konsequenz einer sexistischen Quote aufzeigt. Verdrehte Welt!

Auch ohne diese Fragen hier annähernd ausdiskutieren zu können, machen sie eines deutlich: Im Schwerpunkt der Diskussionen um die aktive Freiheit geht es heute um immaterielle Werte: persönliche Eigenschaften, Eigentum an Informationen, Bildung und soziale Teilhabe, vor allen dort, wo man eine Diskriminierung identifiziert. Die Bedeutung der materiellen Basis hat sich stark reduziert.

In aller Regel geht es sozialistischen Ideologen aber nicht einmal um die materielle Anfangsausstattung zur Teilnahme am sozialen Prozess, sondern um die materiellen Ergebnisse am Ende dieses Prozesses. Zwischen „Sozialer Gerechtigkeit“ im Munde von Sozialisten und im Munde von Liberalen gibt es einen entscheidenden Unterschied: Der Blick der Sozialisten richtet sich auf das Ergebnis und verlangt radikale Korrekturen der materiellen Marktergebnisse am Grauen Tisch staatlicher Bürokratie, in der Regel orientiert am Gleichheitsprinzip auch für Ungleiche. Da geht es gar nicht um aktive Freiheit, sondern allein um staatliche Zuteilung eines „gerechten“ Anteils.

Der Blick des Liberalen richtet sich dagegen auf die Startbedingungen, die eine aktive Teilhabe am Wirtschaftsgeschehen ermöglichen müssen. Allein das ist ein Ansatzpunkt für aktive Freiheit. Dabei zählt neben dem materiellen auch das immaterielle Eigentum, einschließlich des Eigentums an Informationen, und die Möglichkeit, nicht aber die Pflicht zur sozialen Teilhabe. Der mündige Bürger muss etwas aus sich und seinen Eigenschaften machen dürfen, sofern er die Freiheit anderer nicht einschränkt, für sich dasselbe zu tun.

Auch im Umgang mit Informationen gilt „Eigentum verpflichtet“. Die Unzahl von Fakes im Internet zeigt gerade in der Corona-Zeit, dass im Netz derzeit in gravierendes Problem der „informationellen Umweltverschmutzung“ existiert, wo liberale Verantwortung und Haftung eine Rolle spielen könnten. Anonymes Hetzen und Beleidigen ist damit nicht vereinbar. Das aber ist sogar ein Thema für mehrere Bücher. Eines davon hat gerade Wolfgang Kubicki geschrieben.[28] Hier sei nur festgehalten:

Der aktive Freiheitsbegriff wird insbesondere vom Wirtschaftsliberalismus vernachlässigt. Mitbestimmung und soziale Teilhabe an der Organisation des Staates und der Gesellschaft haben zwar eine materielle Komponente. Die alleinige Konzentration materialistischer Ideologien auf diese Komponente ist aber aus der Zeit gefallen. Längst sind es die immateriellen Werte, seien sie individueller oder sozialer Natur (Netzwerkzugehörigkeit), die Macht-, Einflussstatus und Reichtum einer Person bestimmen. Sogar „Geld“ ist nicht mehr fassbar, sondern dokumentiert sich in immateriellen Ansprüchen. Diebstahl geht daher heute effektiver durch das Eindringen in die Informationssysteme von Banken als durch einen Banküberfall.

Es sind diese immateriellen Werte, denen für die aktive Freiheit entscheidende Bedeutung zukommt. Die materielle Grundsicherung ist dabei notwendig, aber hinreichend für die Sicherung aktiver Freiheit ist sie nicht. Vielmehr kommt der Bildungspolitik und der Sensibilisierung für die soziale Teilhabe eine ungleich größere Bedeutung zu. Sozial-liberale haben dieses Problem erkannt und sich von der Erbsünde eines rein passiven bzw. negativen Freiheitsdenkens staatlicher und privater Nichteinmischung getrennt. 

Die älteren unter ihnen haben bei der aktiven Freiheit oft noch die materielle Sichtweise der Sozialisten übernommen. Die reicht heute keinesfalls mehr zur aktiven Teilnahme an Kultur, Politik und Wirtschaft. Der klassische Sozialismus scheitert hier sowohl an seiner materialistischen Engstirnigkeit als auch an seiner ex-post Betrachtung von Verteilungsergebnissen, die er zu korrigieren trachtet oder bereits ex-ante festlegen will. In der Informationsgesellschaft hat er daher mindestens einen so großen Reformbedarf wie die Liberalen und mit seinem Blick auf das Ende des Verteilungsprozesses kann er niemals die Grundlagen für aktive Freiheit legen. Die richtet sich nicht auf den fertigen Kuchen, sondern auf die gleichberechtigte Teilnahme am gemeinsamen Backen.


[1] Vgl. dazu Wikipedia Wirtschaftsliberalismus“, https://de.wikipedia.org/wiki/Wirtschaftsliberalismus. (12.12.19). Siehe dort auch den Beleg für die nachfolgende Bemerkung.

[2] In der letzten Strophe des bei allen christlichen Konfessionen beliebten Kirchenlieds von Dietrich Bonhoeffer heißt es: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag …“. In der ersten: „Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar…“

[3] Beschreibung der Kennzeichnung des Liberalismus durch Judith N. Shklar durch Lenz Jacobsen, Zukunft des Liberalismus – Das Taumeln der Liberalen, https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Lenz+Jacobsen%2C+Zukunft+des+Liberalismus+%E2%80%93+Das+Taumeln+der+Liberalen. (29.04.2020)

[4] Hans-Jürgen Jacobs, Der Liberalismus lebt – und muss sich neu erfinden, https://www.handelsblatt.com/arts_und_style/kunstmarkt/buchtipp-radical-markets-der-liberalismus-lebt-und-muss-sich-neu-erfinden/22785446.html?ticket=ST-31926156-ceTVajiIm2GW5zeC7Yhs-ap3. (12.12.19)

[5] Völlig falsch daher ohne Verfasser, Neoliberalismus und Marktradikalismus, https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Neoliberalismus+und+Marktradikalit%C3%A4t. (16.01.20) wo behauptet wird, der Neo-Liberalismus dieser Prägung leite sich aus dem Ordoliberalismus ab.

[6] Vgl. auch Hasso Mansfeld, Von Kant und der Freiheit: Liberalismus ist Humanismus, https://www.theeuropean.de/hasso-mansfeld/9936-von-kant-und-der-freiheit

[7] Vgl. dazu Frauke Steffens, Unamerikanische Werte? – Der Sozialismus als Schreckensbild, https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=Frauke+Steffens%2C+Unamerikanische+Werte%3F+%E2%80%93+Der+Sozialismus+als+Schreckensbild

[8] So etwa bei Otfried Höffe, Kann Demokratie ohne Liberalismus funktionieren?, https://www.nzz.ch/feuilleton/kann-demokratie-ohne-liberalismus-funktionieren-ld.1349931. (20.01.20) 

[9] Vgl. dazu auch den Wikipedia-Artikel Liberalismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Liberalismus. (15.03.20) 

[10]Ralf Dahrendorf, Liberalismus ist Politik des Wandels. Es gibt einen Platz für eine liberale Partei in der Bundesrepublik. https://www.zeit.de/1983/02/liberalismus-ist-politik-des-wandels/seite-2

[11] Vgl .dazu den Artikel „Linksliberalismus“, https://de.wikipedia.org/wiki/Linksliberalismus. (6.12.19)

[12] Mit John Rawls würden dann die meisten Liberalen wohl sagen „Freiheit vor Umverteitling: vgl, dazu den Abschnitt „Sozialer Liberalismus“ im Wikipedia-Artikel „Liberalismus“, https://de.wikipedia.org/wiki/Liberalismus. (23.03.2020) 

[13] Vgl.dazu etwa den Wikipedia Artikel „Feudalismus“, https://de.wikipedia.org/wiki/Feudalismus.

[14] Vgl, dazu den Abschnitt „Sozialer Liberalismus“ im Wikipedia-Artikel „Liberalismus“, https://de.wikipedia.org/wiki/Liberalismus. (21.03.2020)

[15] Das folgende Beipiel bei Norbert Tofal, Freiheit und Eigentum – eine sozialphilosophische Analyse, https://austrian-institute.org/de/blog/freiheit-und-eigentum-eine-sozialphilosophische-analyse/

[16] So bei Gerfried Sperl, Die Liberalen und ihr fehlender Massenappeal, https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2029569-Die-Liberalen-und-ihr-fehlender-Massenappeal.html. (29.04.2020)

[17] Friedrich August von Hayek, zitiert nach Norbert Tofall, Freiheit und Eigentum – eine sozialphilosophische Analyse, https://austrian-institute.org/de/blog/freiheit-und-eigentum-eine-sozialphilosophische-analyse/.(20.03.2020)

[18] Beide Zitate aus Reinhard Loske, Liegt die Zukunft der Grünen in einem neuen Liberalismus? https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/gruener-wirtschaftsliberalismus-liegt-die-zukunft-der-gruenen-in-einem-neuen-liberalismus-12749983.html. (30.11.19) Dort auch das folgende Zitat.

[19] Philipp Krohn, Die Linksliberalen schotten sich ab, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/soziale-spaltung-die-linksliberalen-schotten-sich-ab-15905941.html. (29.04.2020)

[20] Redaktion Deutsche Anwaltshotline AG, Schwerbehindertenquote: Berechnung und Höhe der Ausgleichsabgabe, https://www.deutsche-anwaltshotline.de/c/ratgeber/arbeitsrecht/schwerbehinderung-im-arbeitsrecht/schwerbehindertenquote. (20.08.2020)

[21] Vgl. Matthias Heine, 60 Geschlechter – Was Facebooks Gender-Wahl über unsere Welt verrät, https://www.welt.de/kultur/article131905819/Was-Facebooks-Gender-Wahl-ueber-unsere-Welt-verraet.html

[22] Augen- und Ohrenzeugenbericht aus einer dem Verfasser bekannten Kommission. 

[23] Ich sehe schon, wie mich nun einige in die Nähe von Männerechtlern oder Frauenhassern rücken. Sebastian Leber, Das Netzwerk der Antifeministen – Wenn fragile Männlichkeit gefährlich wird, https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/das-netzwerk-der-antifeministen-wenn-fragile-maennlichkeit-gefaehrlich-wird/26072892.html, sagt, dass sich auf deren Ideen Terroristen berufen und der Massenmörder Breivik ein „erklärter Antifeminist“ sei. Deshalb seien sie so gefährlich. Auch hier wird schlicht Meinung gemacht und die Logik mit Füßen getreten. Der Umkehrschluss ist nämlich nicht zulässig. Mir geht es auch oben nur um die Logik der Argumentation und deren Prämissen. Ich bin weit davon entfernt, alle Fraueninteressen für unberechtigt zu halten und noch viel weiter davon, Frauenhasser zu sein. Der Logik aber ist Parteilichkeit fremd.

[24] Vgl. Statista, Anteil der Frauen an den Mitgliedern der politischen Parteien in Deutschland am 31. Dezember 2019, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/192247/umfrage/frauenanteil-in-den-politischen-parteien/

[25] Vgl. Laura Harlos, Ungewöhnliche Berufswahl: Hebamme Tobias hilft beim Pressen, https://rp-online.de/wirtschaft/arbeit/nur-vier-maennliche-hebammen-in-deutschland-keine-in-nrw_aid-25130175

[26] Vgl. Sterneköche Deutschland, https://www.restaurant-ranglisten.de/who-is-who/sternekoeche/deutschland/sterne/1/

[27] Wikipedia Artikel Sexismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Sexismus.

[28] Vgl. dazu Wolfgang Kubicki, Meinungs(un)freiheit. Das gefährliche Spiel mit der Demokratie, Frankfurt/Main 2020.

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