Leon Neschle 84

Meine Freiheit, Deine Freiheit – Die Freiheit, „Freiheit“ (nicht) zu verstehen

Freiheit, die ich meine (Max von Schenkendorf, oft benutzt, oft missbraucht)

Vorbemerkung

Liberal sein, heißt für Freiheit sein. Aber für welche Freiheit? Für meine Freiheit, für Deine Freiheit? Für die Freiheit aller anderen? Über alle Grenzen hinaus? Was ist mit der Freiheit meiner Enkel und Urenkel? Wie steht es mit der Freiheit von Organisationen und Kollektiven? Wie mit der Freiheit von Systemen? Gibt es die überhaupt?

Und für welche Art von Freiheit? Für passive (negative) Freiheit VON etwas? Aber wovon? Oder für aktive (positive) Freiheit FÜR etwas? Aber wofür? Und können nicht sogar Bürger eines totalitären Staates irgendwie „frei“ sein? Wenn ja, in welchem Sinn? Endet absolute Freiheit nicht in Anarchie? Was geschieht, wenn meine Freiheit die Freiheit anderer einschränkt? Anderer Völker oder Generationen? Verlangt Freiheit gleiche Startchancen für alle? Reicht dazu gleiches materielles Vermögen aus? Kann es gleiche Startchancen geben, wenn persönliche Eigenschaften (Gene, Körperbau geistige Fähigkeiten) und soziale Bezüge der Menschen (Elternhaus, Freundeskreis) gar nicht umverteilt werden können? Und ist permanente Umverteilung für gleiche Startchancen mit der Freiheit der Einzelnen vereinbar?

Wollte man all diese Frage umfassend und präzise beantworten, könnte man ganze Bücherwände füllen. Bescheidenheit gebietet daher, die Ansprüche herunterzuschrauben. In diesem Schnellimbiss hier hat das Menü nur zwei Gänge: passive und aktive Freiheit. Die Formen der Freiheit sind getrennt angerichtet, so dass man sie bewusst wahrnehmen kann. Im Magen ist es dagegen wie in der Realität. Da kommen die Freiheitsformen gemischt vor.

Meine Schreiberei hier war der Mühe wert, wenn sie Appetit auf Mehr macht und der Leser am Ende mehr Fragen zur Freiheit hat als zuvor. Denn ist nicht der Sinn all der Leserei, sich selbst wichtigere Fragen zu stellen als es der Verfasser je können würde? Es muss einem nicht jeder Geistesbrocken bis zum ungenießbaren Brei vorgekaut werden! Doch Rohkost wäre zu einfach. Für den Geschmack ist al dente besser, damit der Leser noch etwas zu kauen hat. Doch bitte nicht zu fad! Gut gewürzt, nicht überwürzt. Und das Wichtigste: Die besten und frischesten Zutaten, die der Autor auf dem Markt finden konnte.

Wo der Verfasser diese Zutaten gefunden hat? Das bleibt hier wie bei einem normalen Kochrezept das Geheimnis der Küche. Dieser Beitrag ist zitatfrei. Es ist alles selbständig verarbeitet, nichts einfach übernommen. Übernommen hat sich allenfalls der Verfasser bei der Auswahl des Themas und der Verarbeitung der Zutaten.

1. Passive (negative) Freiheit als Freiheit von …..

1.1 Freiheit in autoritären Systemen: Die Freiheit der Abhängigen

Freiheit der Abhängigen in autoritären oder totalitären Systemen bedeutet für die Abhängigen, „frei“ zu sein von Entscheidungszwängen und Verantwortung. Das verlangt nach einer Institution, die für die Abhängigen entscheidet und sie freistellt von individueller Verantwortung. In den abrahamitischen Religionen (Christentum, Islam, Judentum) ist diese Institution ein allwissender und allmächtiger Gott. Er verantwortet die Gebote und Dogmen, die das Verhalten der Gläubigen lenken. Die betreffen alle Lebensbereiche und sagen, was dort richtig und was falsch ist. Sie befreien vom Risiko, etwas Falsches zu tun, daher auch von Verantwortung und Haftung.

Fundamentalisten verlangen die wörtliche Auslegung der heiligen Schriften. Deutungslücken schließen aber auch bei ihnen menschliche Autoritäten mit exklusiver Gotteserkenntnis, woher sie diese auch immer beziehen. Kein Gläubiger muss daher noch über Inhalt oder Sinn der Dogmen und Gebote nachdenken: Geborgenheit und Sicherheit bilden den Kern DIESER Freiheit. – Und der Preis DIESER Freiheit? Niemand darf an den Geboten und Dogmen zweifeln!

Alle Menschen hängen von der Gnade Gottes ab. Doch dessen Wege sind „unerfindlich“. Deshalb gibt es keinen Anspruch auf diese Gnade. Ist es hoffentlich ein „guter Gott“, wird er Gnade gewähren. Alle Gläubigen fühlen sich „wunderbar geborgen“ und frei von Sorgen. Gott nimmt sie ihnen ab und weist ihnen den Weg zum Heil: „Danke, dass ich all meine Sorgen auf dich werfen mag“ oder „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ heißt es in christlichen Kirchenliedern. 

Entweder wird den folgsamen Anhängern das Paradies versprochen oder es ist nur die Frage, auf wen Gottes Gnade fällt, aus für Menschen „unerfindlichen“ Gründen. Bei den drei abrahamitischen Weltreligionen liegt dieses Paradies im Himmel oder im Garten Eden. Eingang findet nur der Gläubige, der zuvor das Zeitliche gesegnet hat. Erst nach seinem Tod erwarten ihn ewige Freuden oder ewige Verdammnis.

Sozialisten und Nationalsozialisten versprechen ihren gläubigen Aktivisten dieses Paradies schon auf Erden. In der aktuellen Politik versucht sich die chinesische Regierung in der Rolle des allwissenden und allmächtigen Gottes. Dieser Gott ist strafend, wenn man seine Gebote nicht einhält, wie das Beispiel der Uiguren zeigt. Nur wer sich absolut konform verhält, kann sich sorgenfrei und sicher fühlen, aber keineswegs immer. Seine Entscheidungsfreiheit und seine Pflicht zur Verantwortung sind vollständig seinem Gehorsam gegenüber der Führung, seiner Passivität und Bequemlichkeit geopfert. Er lässt denken! Die da oben. Dafür spendet er ihnen von Zeit zu Zeit Lobeshymnen im Gottesdienst der Parteiversammlungen und paradiert vor ihnen mit militärischer Präzision in einer langen Prozession.

Sofern er sich jeder Kritik enthält, ist der Abhängige risiko-frei, jedoch nur von Entscheidungszwängen und Verantwortung. Für Kritik und Ungehorsam wird er weggesperrt, kommt in Quarantäne, damit er andere nicht anstecken kann, so wie das früher mit dem Kirchenbann war,

Das ist die „Freiheit“ der Abhängigen. Die haben kein Eigentum, die sind Eigentum. Es hat mich immer wieder erstaunt, warum sich völlig Abhängige in diesem Sinne „frei“ fühlen können. Denn aus liberaler Sicht ist DAS keine Freiheit. Auch nicht aus Sicht der Libertären und Anarchisten, weil der Einzelne nicht ungestraft querdenken und querhandeln darf. Schon gar nicht wird sein Querdenken als Bereicherung und Risikosenkung für die Gesamtgesellschaft empfunden. Das Gegenteil ist der Fall.

Trotzdem suchen wir in Alltagssituationen alle diese vermeintlich sorgenfreie Art der Freiheit, die uns Entscheidungsprobleme abnimmt: z.B. bei der Suche im Internet, beim Steuerberater oder auf der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit im Schoß einer Kirche. Doch auch, wenn diese Form der Freiheit vom „Entscheidenmüssen“ einen großen Teil unseres Lebens bestimmt, können andere Formen der Freiheit unser Leben stärker beeinflussen. Das echte Leben besteht aus einer Mischung von Freiheitsformen, die wir mehr oder weniger selbst bestimmen. 

1.2 Freiheit in anarchischen Systemen: Die Freiheit der Gesetzlosen

Libertäre und Anarchisten verlangen absolute Freiheit von allen Entscheidungszwängen und von jeder Rücksichtnahme auf andere, sogar die Freiheit, die Freiheit anderer einzuschränken. Für sich persönlich, ganz allein! Kein Gebot, kein Dogma, keine staatliche Autorität, kein Kollektiv, kein Einzelner darf ihre individuelle Freiheit einschränken. Jede Fremdkontrolle ist ausgeschaltet, aber im Grunde jede Selbstkontrolle. Jeder darf tun, was er gerade will. Gebotsfrei! Jeder ist sein eigener Gott.

Diese libertäre oder anarchische Form der Freiheit steht in krassem Gegensatz zur Freiheit der Abhängigen. Sie hat jedoch mit ihr gemein, dass auch diese Freiheit alle persönliche Verantwortung fahren lässt. Denn Verantwortung lässt sich nur aus einem ethischen Gebot ableiten und das wird als freiheitsbeschränkend abgelehnt, wie alle Gebote. 

Anarchistische Freiheit wird zum Widerspruch in sich selbst, wenn der Freie übergriffig wird und die Freiheit anderer einschränkt, vor allem wenn er dadurch zur Gefahr für deren körperliche Unversehrtheit wird. Die Lust am Stalken mag groß sein, doch sie beeinträchtigt die Freiheit der Gestalkten, bringt ihn in psychische und physische Zwangslagen. Ähnliches gilt für die Lust am Waffentragen oder die Abneigung gegen das Maskentragen in pandemischen Zeiten. Man selbst kann sich freilich blendend dabei fühlen, wenn man auf keinen anderen Rücksicht nehmen muss.

Auch beim fröhlichen Saufgelage vermittelt die anarchisch-libertäre Form der Freiheit einem selbst gute Gefühle, die allerdings bei der anschließenden Wirtshausschlägerei schnell ins Gegenteil umschlagen können, wenn man an sein zerbrochenes Nasenbein denkt. Da ist man eben nicht der Einzige, der „frei“ seine Wut auslebt. 

Diese Form der Freiheit hat im Alltagsleben oft die Funktion eines Ventils. Da wird mal richtig Dampf abgelassen. Zeitlich beschränkt! Denn diese Freiheit kann sich kaum jemand permanent nehmen. Dagegen würde sich Widerstand von außen erheben. Würden alle immer das tun, was im völligen Belieben jedes Einzelnen liegt, wären Gewalt und Chaos unvermeidbar.

Mit dem Kategorischen Imperativ Kants ist diese grenzen- und verantwortungslose Freiheit unvereinbar. Sein Kategorischer Imperativ fordert: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“

1.3 Freiheit in liberalen Systemen: Die Freiheit der Verantwortlichen

Der Liberale ergänzt die Freiheit DES Einzelnen im anarchischen oder libertären Sinn (1.2) um die Freiheit der Anderen. Dabei hat er zwei Dogmen:

1. Habe kein Dogma (über das einzig richtige Leben), in das Du andere hineinzwingst!

2. Dulde kein Dogma (über das einzig richtige Leben), in das andere Dich hineinzwingen wollen!

Das sind nur Dogmen über Dogmen. Der Liberale kennt im Unterschied zu rechten oder linken politischen Philosophien jedoch kein Dogma über das „richtige Leben“ aller Menschen. Er ist ein Lernender und hat daher keine konkrete Utopie über einen erwünschten Zustand der Gesellschaft, auf den sich die Bemühungen aller richten sollen, und für die er bereit wäre, mit Gewalt zu kämpfen: in einem Putsch, einer Revolution oder einem „heiligen Krieg“. 

Stattdessen sucht der Liberale laufende Verbesserungen der Welt durch Vernunft, soziale Abstimmung und Einigung. Mit offenem Ausgang! Seine Begeisterung für Freiheit, Vernunft und Regeln für eine friedliche Entwicklung, die das Wissen und die Meinung aller integriert, ersetzt die Begeisterung von Extremisten für eine Utopie: das Paradies der Werktätigen, die nationale Volksgemeinschaft oder den Gottesstaat.

Die Verpflichtung zur Achtung der Freiheit anderer ist der soziale Preis der liberalen Freiheit des Einzelnen im Sinne Kants. Zusammen mit dieser Verantwortung für die Freiheit der Anderen wird aus der Freiheit DES Einzelnen die Freiheit DER Einzelnen. Der Liberale ist daher NICHT FREI, die Freiheit anderer zu missachten, NICHT FREI, diese Freiheit nicht zu respektieren. Seine soziale Verantwortung geht über alle Schichten der Gesellschaft, über alle Staats- und Generationengrenzen hinweg:

1. Undurchlässige Barrieren der Gesellschaft aufzubrechen, war der Ausgangspunkt der Ur-Liberalen im erfolgreichen Kampf gegen den Feudalismus. Doch heute sind auf dem Boden liberaler Gesellschaften neue feudale Strukturen entstanden, etwa durch Seilschaften des „Geldadels“ oder im Bildungssystem der USA. Diese Strukturen zerstören die offene, liberale Gesellschaft von innen.

Bei aller berechtigten Kritik an den neofeudalen Tendenzen in liberalen Gesellschaften: Totalitäre Gesellschaften lassen eine offene Gesellschaft erst gar nicht entstehen. Ihr Personenkult, ihre Vetternwirtschaft und die Abschottung ihrer politischen Elite stehen für einen institutionalisierten Neofeudalismus ungleich größeren Ausmaßes, ob in Nordkorea, China, der Türkei oder in Belarus.

Die Kritik an neofeudalen Tendenzen in liberalen Gesellschaften ignoriert das meist. Sie vergleicht die perfekteScheinwelt der sozialistischen Ideologie mit der unperfekten Realität liberaler Gesellschaften, nicht die realen Systeme „liberale und sozialistische Gesellschaft“. Im direkten Vergleich der realen Systeme fällt das Urteil über neofeudale Tendenzen trotz aller Mängel deutlich zugunsten der liberalen Gesellschaften aus. Beim direkten Vergleich der Ideologien würde man feststellen, dass auch die liberale Ideologie keinen Neo-Feudalismus kennt. Wie sollte es nach dem erfolgreichen Kampf gegen den Feudalismus anders sein!

2. Nationalliberale haben ursprünglich grenzüberschreitendes Denken gezeigt, als sie halfen, die deutsche Kleinstaaterei zu überwinden. Hätten sie auf diesem Weg weitgemacht, wären sie heute Befürworter der EU. Als deren Gegner aber sind sie aus der Zeit gefallen. Ihr „My Country First!“ beschränkt die liberale Verantwortung auf die Landsleute. In einer globalen Welt verletzt dies das Prinzip Kants. Nationalliberale sind daher halbherzige Liberale mit einem Handicap.

3. Mit der generationenüberschreitenden Verantwortung für die Freiheit anderer, ist man beim Umwelt- und Klimaschutz. Liberale Lösungen im Umweltschutz sind nicht in erster Linie Ver- und Gebote, Strafsteuern oder Subventionen, sondern Marktlösungen. Die Rede vom „Umwelt- und Klimakiller Markt“ ist völlig abwegig, weil der Markt bei freien Umweltgütern gerade NICHT zum Einsatz kam und kommt. Der angebliche Klimakiller hat hier ein perfektes Alibi. Das beweist auch die höhere Verschmutzung der Umwelt und der schlechtere Klimaschutz in nichtliberalen Gesellschaften mit planwirtschaftlichem System.

Mit seiner umfassenden Verantwortung für die Freiheit anderer, ist der Liberale gerade kein „verantwortungsloser Geselle“. Das sind eher seine Ankläger, die sich von Verantwortung befreien: als gehorsame Untertanen gottähnlicher Potentaten, als Anarchisten oder als „quasi-Libertäre“ Neofeudale im liberalen System, denen die eigene Freiheit weit über die Freiheit der anderen geht.

Im Gefolge des Kategorischen Imperativs Kants hat gerade der Liberale kein egoistisches Menschenbild. Dies aber wird ihm vorgeworfen: durch Verwechselung mit den Libertären, aber oft auch im Zusammenhang mit dem „homo oeconomicus“, der DAS Leitbild des Liberalismus sein soll. Der „homo oeconomicus“ ist aber nur eine Kunstfigur für ökonomische Modelle, ein Avatar, der im Modell strikt rational, völlig mechanisch und vollkommen vorhersehbar allein auf ökonomische Anreize reagiert. „Strikt rational“ ist jedoch nicht zugleich egoistisch, denn „strikt rational“ kann oder sollte man auch mit altruistischen Motiven handeln, um z.B. als Stiftung Verschwendung zu vermeiden und möglichst viele Mittel dem altruistischen Stiftungszweck zuzuführen.

Aus Gründen der Prognosesicherheit im Modell ist die Kunstfigur „homo oeconomicus“ absolut unfreikonzipiert. Das gilt ebenso für die Kunstfigur des Behavioristischen Menschen oder für den homo deus, der laut Harari aus einem Algorithmus „besteht„. Denn das Verhalten frei entscheidender Menschen ist nicht exakt prognostizierbar. Das ist der wesentliche Grund, warum man dem Menschen als Modellfigur seine Freiheit nimmt. Als Menschen- und Leitbild einer realen Philosophie der Freiheit kann ein völlig unfreier „homo oeconomicus“ niemals geeignet sein. Daher lässt sich an ihm auch keine Kritik des Liberalismus festmachen.

Wären diese unfreien Modellfiguren echte Menschen, ließe sich bezweifeln, ob der Mensch überhaupt „frei“ sein kann. Und wer unfrei ist, kann keine Verantwortung tragen und haftet zu Unrecht für das, was er tut. Denn verantwortlich sind seine Gene (sehr gern von rechten Extremisten benutzt), die gesellschaftlichen Verhältnisse (da sind wir bei den Linken) oder die umfassende Kenntnis, Kontrolle und Steuerung durch moderne Kommunikationsmedien (das ist der homo deus von Harrari, wohl am weitesten realisiert in China). Auch Kinderschänder sind dann völlig fremdgesteuert und nicht persönlich verantwortlich. Wer die Ursache in ihrer Genetik sieht, kann sie nur wegsperren oder ausmerzen. Wer die gesellschaftlichen Verhältnisse verantwortlich macht, wird zeigen müssen, dass es unter geänderten Verhältnissen gar nicht erst zu Verbrechen kommt. Das führt zu den Vertuschungsaktionen über Verbrechen in den sozialistischen Staaten, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Bei aller Einschränkung unserer Freiheit, glaubt der Liberale jedoch daran, dass es noch einen Rest persönlicher Freiheit und Verantwortung gibt. Und die Regenschirme von Hongkong schreien danach!

2. Aktive (positive) Freiheit als Freiheit zu …

Im liberalen System beschreibt aktive Freiheit die Möglichkeiten zur sozialen Teilnahme der Menschen an Kultur, Politik und Wirtschaft. Im totalitären System gibt es keine aktive Freiheit. Hier wird soziale Teilnahme nicht ermöglicht, die Teilnahme wird verlangt oder verboten. Und im anarchischen System darf es keine institutionelle Unterstützung für aktive Freiheit geben. Aktive Freiheit schließt staatliche Regulierung ein und die widerspricht der anarchistischen oder libertären Ideologie.

Ohne ein Minimum an Mitteln ist aktive Freiheit dem Einzelnen unmöglich. Das sind jedoch nicht nur materielle Mittel, wie Materialisten einseitig betonen. Heute sind immaterielle Faktoren, wie Bildung, Gesundheit und der Zugang zu Informationen mindestens genauso wichtig wie die materielle Ausstattung.

Im Unterschied zu Sozialisten blicken Liberale nicht auf die Verteilung von Ergebnissen, sondern auf die Startchancen. Würde man stetig versuchen, die materiellen Startchancen aller Menschen gleichzumachen, müsste der Staat permanent umverteilen. Denn je nach Neigung und Unterschieden in persönlichen und sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten ergeben sich selbst bei gleicher materieller Anfangsausstattung laufend Unterschiede in den Ergebnissen menschlichen Handelns, unabhängig vom Wirtschaftssystem. Anders wäre es, wenn eine Gleich- oder Umverteilung individueller Neigungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und körperlicher sowie geistiger Behinderungen möglich wäre. Die ist aber nicht einmal denkbar.

Sozialistische Materialisten ignorieren diese Notwendigkeit der Umverteilung immaterieller Startchancen. Würde die Verteilung des materiellen Vermögens durch umverteilende Staatseingriffe dauernd auf „Anfang“ gestellt, unabhängig davon, ob jemand sein Geld versäuft oder sich anstrengt, zerstört man jedoch sowohl passive und als auch aktive Freiheit, weil man die Ergebnisse des Gebrauchs dieser Freiheiten laufend vernichtet. Wer aber den Gebrauch der Freiheit sanktioniert, sanktioniert auch die Freiheit. Und selbst wenn auf diese Weise materielle Gleichheit kurzfristig hergestellt würde, bleiben individuelle Ungleichheiten: aus Genetik und Erziehung. Eine Gleichverteilung all dieser Eigenschaften im Sinne gleicher Startchancen ist unmöglich.

Immer wieder richten Sozialisten die Diskussion dennoch allein auf die materielle Basis. Doch die Liste der reichsten Menschen wird heute nicht von Personen angeführt, die bereits von Kindheit an materiell extrem gut gestellt waren. Das relativiert die Bedeutung materieller Gleichheit für die Gleichheit der Startchancen. Unbedeutend wird sie dadurch nicht. Denn ohne materielle Grundsicherung ist aktive Freiheit unmöglich.

Ein rein materialistischer Ansatz missachtet alle immateriellen Quellen der Ungleichheit. Aktive Freiheit im liberalen Sinn erkennt dagegen die Unmöglichkeit absoluter Gleichheit aller Startchancen. Gleichwohl muss politisch permanent daran gearbeitet werden, um die aktive Teilhabe aller Menschen zu ermöglichen. Das schließt zwar eine materielle Grundsicherung ein, heute entscheiden aber vor allem den Zugang zu Bildung und Informationen, aber auch zu medizinischer Versorgung. Hinzu kommen Einzelfragen um regionale Unterschiede oder solche um Geschlecht, körperliche und geistige Einschränkungen oder Herkunft. 

Gleichbehandlung wäre hier gegen den Sinn aktiver Freiheit. Denn dabei geht es um die Förderung Benachteiligter und deren Befähigung zu aktiver Teilnahme. Dabei werden z.B. durch Rampen für Rollstuhlfahrer oder Markierungen für Blinde Nachteile für Unversehrte in Kauf genommen.

Wer als Liberaler die aktive Freiheit neben der passiven besonders betont, zählt zu den „Sozial-Liberalen“. Hier geht heute ein Riss durch die Liberalen, die sich außer bei der extremen Rechten und Linken in allen politischen Parteien finden: bei den Realos der Grünen ebenso wie bei CDU und SPD. Bei der FDP, der Partei, die den Liberalismus im Schilde führt, wurde mit den Freiburger Thesen die aktive Freiheit betont. Seitdem hat sich deren Mehrheit weitgehend auf die passive Freiheit zurückgezogen.

3. Meine Freiheit

Meine Freiheit ist nicht, frei zu sein, wie die Libertären es sind und die Anarchisten: Frei zu sein, Waffen zu tragen; frei zu sein, sich bei pandemischen Viren nicht impfen zu lassen; frei zu sein, im Restaurant in Anwesenheit anderer zu rauchen oder in enger Gegenwart anderer keine Corona-Maske zu tragen. Solche Freiheiten sind egoistische libertäre Freiheiten, die sich zur Egomanie auswachsen können. Sie gehen oft zu Lasten der Freiheit anderer, ihrer Gesundheit und ihrer körperlichen Unversehrtheit. 

Nähmen sich alle Menschen diese Freiheit, würden wir in Streit und Chaos versinken. Raucht der eine in seiner Anwesenheit, zieht der andere seine Waffe und nimmt selbst sich die Freiheit, den lästigen Raucher zu erschießen. Kein Gesetz, keine Ethik und keine Moral hindern ihn daran. Allein die Gegengewalt anderer könnte ihn bremsen und ihn verantwortlich machen: So begründet die Waffenlobby in den USA das allgemeine Tragen von Waffen.

Meine Freiheit ist auch nicht, frei zu sein, wie Menschen, die sich einem Dogma oder einer Institution unterwerfen, um sich von Entscheidungszwängen zu befreien und vor persönlicher Verantwortung zu drücken. Sicherheit, Geborgenheit und Bequemlichkeit sind die Verlockungen dieser Freiheit der Abhängigen. Im Internet unterwerfen sich ihr täglich unzählige Menschen und begründen damit die Macht von Facebook, Google und Co., vor allem aus Bequemlichkeit.

Doch Sicherheit, Geborgenheit und Bequemlichkeit sind trügerisch. Denn wer auf diese Weise frei ist, der liefert sich aus, macht sich abhängig vom Wohlwollen und der Gnade derjenigen, denen er seine Entscheidungen, seine Kontrolle und seine Verantwortung abtritt. Man muss gar kein Kontrollfreak sein, um diese Freiheit als wackelig zu empfinden. Jederzeit kann sie von Diktatoren oder Googles dieser Welt zum eigenen Nachteil ausgenutzt werden. Viele dieser menschlichen Götzen haben die Abhängigen selbst zu ihren Götzen gemacht. Und sie feiern täglich Götzendienst vor den Symbolen ihrer Macht. Das wird schon in der Jugend geübt: vor Fanpostern, Autogrammen und Merchandising-Ikonen von Teenie-Idolen. Aber ist das frei?

Meine Freiheit ist, frei zu sein wie ein Liberaler. Frei und dennoch gebunden in der Verantwortung für die Freiheit anderer, wo immer die auch sind: meine Nachbarn, meine Landleute, die Menschen jenseits der Grenzen und die meiner Enkel. Und meine Freiheit ist nicht nur eine passive des Verhinderns (von unnötiger Einmischung des Staates, von privaten Institutionen, Kollektiven und Individuen), sondern auch eine aktivedes Ermöglichens (der Teilhabe aller Menschen an der Gestaltung von Kultur, Politik und Wirtschaft). 

Dabei geht es mir nicht wie den „Gutmenschen“ vor allem darum, mein eigenes Gewissen zu entlasten mit einer Gesinnungsethik, die ja nur Gutes will. Es geht um die Folgen meines Tuns, so weit wie ich sie erkennen kann, auch um die Folgen der Folgen. Das ist umfassende Verantwortung als Richtschnur meines Handelns und es ist viel mehr als der Versuch, mit guter Gesinnung das eigene Gewissen zu entlasten.

Für manche mag das eine zu sehr eingeschränkte Freiheit sein. Und eine Freiheit, die einen dauernd überfordert, weil man ihren Ansprüchen nie gerecht werden kann. Und doch ist das meine Freiheit. – Ob ich sie auch lebe? Keinen Tag lang. Denn sie überfordert mich laufend und ich bin nur ein Mensch mit bescheidenen Fähigkeiten. Doch sie gibt mir Leitlinie und Orientierung. Sie lässt mich meine Entscheidungskraft und Verantwortung behalten. Kurz: Sie macht mich zum mündigen Bürger und nicht zum Mündel anderer oder zur Marionette eines Systems.

Dazu gehört das, was mir die aktive Teilnahme an Kultur, Politik und Wirtschaft möglich gemacht hat, vor allem meine schulische und universitäre Ausbildung. Die habe ich durch eigenständige Bildung ergänzt oder ersetzt und tue es heute noch laufend. Aktive Freiheit verlangt vor allem den Ausgleich von Handicaps. Da habe ich mein wesentliches Handicap, meine Kindheit und Jugend, lange hinter mir gelassen. Andere brauchen da mehr Unterstützung. Ich bin dafür, sie ihnen zu geben. Auch von Staats wegen. 

Streng genommen lebe ich selbst alle genannten Freiheiten, aber ich liebe nicht alle gleich. Politische und religiöse Fundamentalisten mit übergriffigen Ideologien entscheiden sich für die totalitäre Form. Und auch ich lasse mir ab und zu Entscheidungen und Verantwortung abnehmen und mache mich abhängig, etwa von meinem Steuerberater. Und sollte ich bei einer Party mal ausflippen und keinen anderen mehr im Blick haben, habe ich sicher einen Schluck zu viel aus der Anarcho-Pulle mit dem Etikett „Libertär“ getrunken. Doch ich entferne mich nie allzu weit von meiner Lieblings-Freiheit. Und das ist nun mal die liberale. Dahin komme ich immer wieder zurück.

Doch ich muss einsehen: Meine Freiheit ist die unbeliebteste aller Freiheiten. Das habe ich in der Corona-Krise gemerkt. Da sind viele Deutsche vor allem wegen der anarchischen Masken-Freiheit in die Niederlande gefahren, weil sie der Bevormundung durch die Maskenpflicht in Deutschland entgehen wollten. Diese Freiheit ohne gefühlte Verantwortung ist im Zweifel die Nummer eins der Rangordnung, selbst wenn sie Risiken für andere birgt. Die Leute wollen individuelle Freiheit, sind aber nicht bereit, den Preis persönlicher Verantwortung und Haftung dafür zu zahlen.

Ohne Maskenpflicht setzt in Deutschland oder in den Niederlanden kaum jemand eine Maske auf. Wo kämen wir denn hin, wenn man aus Verantwortung für die Freiheit und Gesundheit anderer freiwillig eine Maske trüge!? Doch ich tue das. 

Ich war mit meiner Maske in Deutschland fremd, als es noch keine Maskenpflicht gab, ich bin das jetzt in den Niederlanden, weil ich sie freiwillig trage, wenn ich anderen zu nahe komme. Und die Leute? Sie machen einen großen Bogen um mich, wenn ich ohne Maskenpflicht eine Maske trage und laufen lieber nahe an Leuten vorbei, die keine Maske tragen. Das ist nicht meine Logik, sondern die der Leute. Denn in meiner Nähe wären sie sicherer.

Das Verhalten der Leute ändert sich nur, wenn es eine Maskenpflicht für alle gibt. Dann fühlen sie sich in der diktatorischen „Freiheit“ gut aufgehoben, jedenfalls besser, als wenn sie aus eigener Verantwortung eine Maske tragen. So kommt diese „Freiheit“, die ihnen das Entscheidenmüssen erspart, auf Rang zwei der beliebtesten Freiheiten. Ganz hinten rangiert deshalb die Freiheit, die sich an persönliche Verantwortung und Haftung koppelt. Dieser Preis der Freiheit ist den meisten zu hoch. Oder sie sehen sich nicht in der Lage, aus eigenem Antrieb verantwortungsvoll zu handeln, vor allem nicht unter verantwortungslosen Anarchos, die auf dicke Hose machen: Schaut her, wie frei ich bin! Ohne Maske! Das könnt Ihr auch! Und dann lassen sie ihre Maske fallen.

In einem solchen Umfeld aus eigener Verantwortung eine Maske zu tragen, überfordert offenbar viele. Es bleibt dennoch jedem überlassen, trotz fehlender Maskenpflicht in eigener Verantwortung eine Maske zu tragen. Das ist die Freiheit mündiger Menschen und deshalb bleibt sie meine Lieblings-Freiheit. Nur wer hier gegen den Strom schwimmt, kann zur Quelle meiner Lieblings-Freiheit finden.

Und was ist Deine Lieblings-Freiheit?

Ich bin so frei

Despotische Freiheit

Ich bin so frei, ich muss nicht denken,

Das müssen andere für mich tun.

Ich muss mir nicht mein Hirn verrenken,

Bei mir kann der Verstand ausruh‘n.

Der für mich denkt, ist mein Diktator.

Wer für mich denkt, der ist mein Gott.

Er schreibt mir alles ganz genau vor,

Wenn ich’s nicht tue, droht’s Schafott. 

Doch wenn ich’s tue, bin ich „frei“,

Ich muss mich nie entscheiden,

Ist nie Verantwortung dabei,

Die kann ich immer meiden.

Und frei von dieser Last zu sein,

Das ist ein schönes Leben,

Da fühl ich niemals mich allein.

Was kann es Schön’res geben!

Zudem verheißt man bei uns allen

‘S Schlaraffenland, das Paradies,

Das MUSS doch allen auch gefallen,

Wem’s nicht gefällt, ja der ist mies.

lll

Anarchisch-libertäre Freiheit

Was Du „frei“ nennst, nenn ich „versklavt“,

Dir ist ja nichts erlaubt.

Der ist schon ziemlich unbedarft,

Der Deinen Unsinn glaubt.

Frei ist nur, wer ohne Zwang,

Stets das tun kann, was er gern mag.

Er folgt allein dem eig’nen Drang

Den lieben langen Tag.

Er tut alleine, was er will,

Was immer auch die and’ren wollen.

Regeln und Pflichten schweigen still,

Es gibt kein Müssen und kein Sollen.

Er darf nach Lust und Laune paffen,

‘Ne Waffe tragen, Maske nicht,

Ihn stören nicht die anderen Affen

Und kein Gesetz und kein Gericht.

llll

Liberale Freiheit

Das ist Wunschdenken, es ist krank,

Da fehlt mir der Gedanken Strenge,

Ich riech‘ der Anarchie Gestank,

Der Zwang entsteht doch durch die Menge.

Was einer tut, was einer macht,

Wirkt sich auf and’re aus,

Bringt viele Zwänge, leis und sacht,

Treibt diese Freiheit aus.

Pisst einer wem an seine Karre,

Schränkt seine Freiheit ein,

Dann zückt der andere seine Knarre

Und schießt ihm in sein Bein.

Wem Freiheit and’rer nicht egal,

Wer sie im Auge hat,

Der nennt mit Recht sich liberal,

Hat dadurch Pflichten satt.

Auf Nachbarn, Enkel muss er achten,

Da bleibt ihm keine Wahl.

Weil sie nach ihrer Freiheit trachten,

Ja liberal ist eine Qual.

Die Grenzen seiner eig’nen Freiheit

Die definiert man ständig neu.

Wer sich nicht wandelt mit der Zeit,

bleibt nicht dem Liberalen treu.

Treu der Verantwortung für alles,

Was er auch macht, was er auch tut.

Er haftet selbst im Fall des Falles,

Da braucht er Kraft, da braucht er Mut.

Und rechte und auch linke Boten

Totalitärer Ideologie

Die hau’n ihm ständig auf die Pfoten

Verstehen seine Freiheit nie.

Sie gaukeln vor ein Paradies,

In das sie alle zwingen,

Zu deren Wohl – sie kennen dies –

Weil sie allein die Wahrheit bringen.

Der Liberale ist bescheiden,

Er glaubt nicht an das Heilsgeschwätz,

Drum mögen viele ihn nicht leiden,

Für sie ist ihre „Religion“ Gesetz.

Wär‘ Fußball wirklich unser Leben,

Hassten das Spiel sie wie die Pest.

Ergebnisoffen darf‘s nicht geben,

Der Staat legt das Ergebnis fest.

Des Liberalen Denken zielt dagegen

Auf faire Regeln für das Spiel,

Kaum Korrekturen gibt’s deswegen,

Schießt einer mal ein Tor zu viel. 

Ein fairer Wettkampf ist das Ziel,

Wo jeder kann gewinnen,

Da ist auch etwas Glück im Spiel,

Doch das kann schnell zerrinnen.

Doch wer‘s Ergebnis kennen will,

Bevor ein Spiel gelaufen ist,

Der ignoriert die Regeln still,

Manipuliert mit List.

Als Liberaler muss man akzeptieren,

Selbst wenn die anderen oft gewönnen.

Da wird man dann auch mal verlieren,

Und es den anderen gönnen.

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