Leon Neschle 6 (13. Woche 2007)

Rechtschreiben ist gut, Rechtlesen ist besser!

Der eine hat die falsche Rechtschreibung und der andere die rechte Falschschreibung. (Georg Christoph Lichtenberg)

Niemand hat den Begriff „Experte“ stärker besudelt als die Philologen, die uns die „Rechtschreibreform“ zugemutet haben. Im Ruhrgebiet wusste man es immer. Da ruft man: „Du bist mir vielleicht ein Experte!“, und meint: „Du hast aber auch gar keine Ahnung, keinen blassen Schimmer!“

Dabei hat Philologie rein sprachlich etwas mit „Liebe zum Wort“ zu tun, die wiederum mit „Liebhaberei“ (dem steuerlichen Wort für „Hobby“), die von einem „Amateur“ (von amare = lieben), also einem „Liebhaber“, betrieben wird. Doch was ist das für ein Liebhaber, der seine Wörter und damit die ganze Sprache „kaputtliebt“?

Vor diesen „amateurhaften Experten“, die nun auch keine Contradictio in adjecto mehr sind, versucht Neschle schon seit langem die deutsche Sprache in Schutz zu nehmen. Denn Neschle liebt sie wirklich! Daher hat er an diesem Essay schon einige Zeit geschrieben und es immer wieder verschlimmbösert, wenn Änderungen der Änderungen der Reform neu eingepatschworkt wurden. Derzeit weiß Neschle selbst nicht mehr genau, was nach Meinung dieser Experten richtig sein soll. Es interessiert ihn auch nicht mehr! Deutlicher: Es geht ihm am A… vorbei! Er hält es da mit Lichtenberg: „Ich mag immer den Mann lieber, der so schreibt, wie es Mode werden kann, als den, der so schreibt, wie es Mode ist.

Neschle hasst seitdem den Begriff „Experte“. Neulich hat ihn ein Kollege ganz unbefangen so genannt. Da gab Neschle zurück: „Lieber Kollege, nennen sie mich nie wieder einen „Experten“! Das fasse ich als Beleidigung auf!“ Daher sind die folgenden Zeilen auch aus der Sicht eines echten Liebhabers der Spruchkultur geschrieben. Diese Kultur sollte sich lebendig entwickeln (dürfen), statt der „Vergewaltigung“ durch Sprachdiktatoren und –dompteure anheim zu fallen. – Und so, liebe Gemeinde, fange ich dann an:

A. Schreibe, lese: allgemein verständlich oder allgemeinverständlich?

Es gibt Restaurants, die werben mit der Aussage: „Hier kocht der Chef!“ Entscheidender aber wäre zu behaupten: „Hier isst der Chef!“ Früher bedeutete das nämlich automatisch: „Traue nie einem dünnen Koch!“

Die deutschen Rechtschreibreformer sollte man fragen, ob sie eigentlich den von ihnen an- und zugerichteten Schreibsalat auch selber lesen wollen. Es scheint zumindest nicht so! Sonst wäre ihr Schreibsalat wenigstens gut angerichtet, jedenfalls in ihren Augen. Doch ist dieser Schreibsalat für andere überhaupt genießbar?

Wir werden in diesem Essay einiges davon verkosten können und feststellen: Man hat sich bemüht, einiges an der Zubereitung zu ändern, ganz selten sogar zu erleichtern. Doch man hat vergessen, Kostproben zu nehmen. So ist vieles ungenießbar geworden, was man uns mit der Rechtschreibreform vorgesetzt hat.

In diesem Essay geht es also um Recht-Schreibung und mehr. Um alles, was darin und daran Recht (oder recht?) ist oder nicht: Bei dem Hin und Her und dem, was heute alles gleich gültig sein soll, wird Rechtschreibung vielen allerdings immer gleichgültiger. Und der Duden-Verlag hat längst andere Interessen als die Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung. Daher fragen immer weniger: Was weiß Du-denn? Das hat der Konrad „Was-weiß-Duden“ nicht verdient, dass sein Werk immer mehr seinem Geburtshaus ähnelt.

Letzteres, das „Haus Duden“ in Wesel, ist heute ein Hotel. Neschle will gar nicht das Hotel tadeln. Bei dem ist es normal, dass öfter die Gäste wechseln und sich häufig mehrere in einem Zimmer befinden. Aber bei den Stichwörtern im Duden? Da, ja da, da wirkt das ein wenig gestört.

Mit der ersten Rechtschreibreform wurde versucht, aber wirklich nur versucht, etwas genau zu tun, was man besser gar nicht getan hätte. Jedenfalls nicht aus ökonomischer Sicht. Es zeigt sich, dass ökonomisches Denken für eine Rechtschreibreform heilsam sein kann. Der Ökonom lehnt sie nämlich ab! Genauer: Er funktioniert sie zur Rechtlesereform um.

Schon Goethe, der ein guter Ökonom war[1], kam es auf den Leser an. Ihm war die Rechtschreibung ziemlich wurscht. Weil er selten selber schrieb, sondern diktierte. Da hatte der Schreiber das Problem und Goethe sich davon entledigt. Doch wer hat heute noch Schreiber?

Wenn einer schreibt, lesen das gewöhnlich wesentlich mehr Leute. Wer schreibt, bietet eine Botschaft an. Von ihm sollte man verlangen, dass er sich anstrengt. Seine Botschaft sollte er so gestalten, dass sie von den Lesern ohne Mühe aufgenommen werden kann. Das liegt in Interesse von Empfänger und Sender.

Die Rechtschreibreform hat sich zum Ziel gesetzt, den Sendern ihre Arbeit zu erleichtern, nicht den Empfängern. Eine Rechtlesereform war es nicht. Weder dem Ziel nach, noch der Wirkung. Im Gegenteil! Den Lesern wurde die Arbeit erschwert, guten Schreibern ein Gutteil ihrer Ausdrucksmöglichkeiten genommen. Aus Gründen sozialer Versimpelung für den schlechten Schreiberling! Der konnte schon früher gut schreiben und gutschreiben nicht auseinanderhalten und er hat nie verstanden, dass schönrechnen gerade nicht schön rechnen ist. Sein Unverständnis sollte er nun durch diese Reform perfektionieren dürfen.

Sprachfeinheiten sind zwar nicht allgemein gebräuchlich und erst recht nicht allgemeingebräuchlich oder allgemeinverständlich. Nach der ersten Rechtschreibreform dürften wir sie gar nicht mehr gebrauchen. Wir schrieben nur noch allgemein verständlich. Das ist mir nicht allgemein, also im Allgemeinen, verständlich, aber im Besonderen ist es vielen vielleicht sogar so unklar, dass es nicht mehr allgemeinverständlich ist.

Mit dem generellen Zwang zur Getrenntschreibung verschwindet der Lexikoneintrag für allgemeinverständlich. So wird das Gefühl für die Sprachnuancen flötengehen, weil es künftig nur noch flöten gehen sollte: Kommt die allein stehende Frau auf mich zu, habe ich Halluzinationen. Wie soll sie auch auf mich zukommen, wenn sie allein steht. Bei der alleinstehenden Frau komme ich in die Wirklichkeit zurück. Da bin ich wieder Frauenversteher. Wer allein steht, muss stehen bleiben, sonst würde er nämlich das Stehen bleiben lassen. Dann macht mein Geist nicht mehr mit. Wenn aber mein Geist stillsteht, heißt das nicht, dass mein Geist still steht, sondern dass er laut aufschreit.

’Alleinstehend durfte ich noch sagen mit Betonung auf der ersten Silbe, aber nicht mehr schreiben. Da waren die Reformer dem Gedanken schwer hörig, der deutsche Mensch sei schwerhörig und könne Klangunterschiede nicht in Sprache umsetzen.

Immerhin hoffte man, dass wegen der Rechtschreibreform weniger Schüler sitzen bleiben. Weil sie schneller mit Rechtschreiben (oder vielleicht Recht schreiben?) fertig sind, können sie eher aufstehen und sich körperlicher Ertüchtigung widmen. Damit sie nicht wegen einer Fünf in Sport „sitzenbleiben“, was meine automatische Rechtschreibkorrektur noch in sitzen bleiben“ umwandelt und mir rot unterschlängelt als Fehler entgegenhält. Das aber hält mein Verstand nicht aus. Daher schreibe ich es zusammen, denn ich will diesen Text nicht nur zusammenschreiben.

Man muss hier noch eine Menge richtig stellen – Oder doch besser richtigstellen, obwohl wieder rot unterschlängelt? – bis der Leser weiß, worum es geht. Auf den kommt es schließlich an, will eine Botschaft etwas bekanntgeben (Autokorrektur! Tschuldigung!, also bekannt geben?). Apropos: Weil ich mich durchaus so bekannt geben will, wie ich bin, habe ich mich entscheiden, mein Pseudonym zu enttarnen und meinen Namen bekanntzugeben. Da soll ich künftig bekannt geben schreiben, entgegen der Sprachmusik. Macht doch Euren Dreck alleene! –

Doch ausgerechnet am Rosenmontag 2006 kündigt der Rat für deutsche Rechtschreibung, der sich seit 2004 mit diesen Sprachwitzen befasst, eine weitgehende Rückkehr zu alten Regeln an. Hätte er nicht wenigstens bis Aschermittwoch warten können? Das wird uns jede Menge Spaß kosten im Umgang mit der Sprache. Welche Freude hat man doch, wenn sich selbst regelgesteuerte Juristen im Regelwerk der Rechtschreibung verirren. Wenn wir es da statt nur mit dem „vollmachtlosen“ nun mit dem „voll machtlosen“ Vertreter zu tun haben.

Wer eine Reform so schlecht macht, den muss man gar nicht schlechtmachen. Er macht es selber und er hat es nicht besser verdient, gerade wenn er auch noch besserverdient. Schließlich ist man auch kein Gott, der Menschen gut oder schlecht machen könnte. Aber schlechtmachen kann man ihn, weil er etwas gutzumachen und gut zu machen hätte, wenigstens in der Reform der Reform.

Die erste Reform war nicht gut gemacht. Obwohl ich mir die Kritik nicht leichtmachen wollte, waren diese Beispiele leicht gemacht. Wo man auch hinliest, überall kann man solche Beispiele bereits fertig bekommen, so dass man sie nicht mühsam fertigbekommen muss. Wie sagte ein Leserbrief im Spiegel: Schreibt man liebhaben auseinander, hört das Liebhaben auf. Etwas Traurigeres vermag man sich kaum vorzustellen. Da können mich die Reformer mal gernhaben! Doch nicht gern ’haben, weil ich eben nicht auf ihrer Seite stehe.

Dabei hätten diese Dinge Sprachexperten wohl bekannt, ja sogar wohlbekannt sein müssen. Aber man hat nicht wohlüberlegt gehandelt, so dass mancher Leser heute wohl überlegt, was gemeint ist mit dieser nichts sagenden oder besser: nichtssagenden Reform.

Wer versteht schon, warum sich die Sprachgewaltigen selbst an englischen Begriffen wie Standing Ovations vergangen haben? Um unseren Schülern die Rechtschreibung zu erleichtern? Im Englischen oder im Deutschen? Standingovations schrieben sie vor (obwohl sie die Wahl lassen und es nicht vorschreiben!) und hoffentlich niemand nach. Was ist das „Stan-dingo-vations“? Was ein dingo ist, weiß man auch außerhalb Australiens: ein wilder Hund, wie diese Reform ein dicker ist. Aber der Rest: Stan (Wo ist Olli?) oder vations. Mit C&A wird aus vations wenigstens vacations. Schickt die Reformer doch in den Billig-Urlaub!

Den lachsangelnden oder lax Lachs angelnden Grizzly kennt man in Kanada. Durch die deutsche Rechtschreibung läuft er aber als Müsli-fressender Grislibär auf den Ökolatschen der Spät-68er. In dieser traurigen Fase klingt es wie eine Frase: Wir haben Glück, es heißt nicht Fü-sick. Dann wäre ich mit meiner Fillosofie am Ende. Es könnte mich füsio-logisch krank machen.

B. Für Leser groß und klein: Lesen für Groß und Klein.

Die Reformer sind mit der Reform auf halbem Wege stehengeblieben. Pardon: stehen geblieben[2]. Man hat die Groß- und Kleinschreibung nicht zugunsten der ermäßigsten Kleinschreibung abgeschafft. Keine Vereinfachung für den Schreiber! Nach wie vor stellt die Groß- und Kleinschreibung Stolperfallen für ihn auf. Einige davon sind legendär: Wie jene schweizer, die deutschen boden verkaufen. Was verkaufen die Schweizer wem? Oder: Ich habe liebe genossen. Besser vereinsamt als vereinsamt. Was ist hier was? Helft den notleidenden vögeln! An einer schönen brust lässt sich gut liegen, weiß Johann Jakob Freudenreich. Er ist bräutigam und braut zugleich. Er braut, als Braumeister natürlich! Nicht als eine Braut, die mit der Hochzeit ihre Erwartung vom Glück hinter sich bringt.

Und aus alter Zeit bekannt: Fuggers wagen waren wegen der fuhrleute schneller. Diese wagen waren wegen anzuvertrauen, die andere scheuen. Neschles Lieblingssatz ist: Ich hab dich ungeheuer lieb[3]: Ungeheuerlich!

Doch es sind nicht diese Ausnahmen, die zählen. Sie sind bei weitem das schwächste Argument für die Beibehaltung der Groß- und Kleinschreibung. Der Inkonsequenz der Sprachreformer verdankt es der Leser, dass er weiterhin den deutschen Text schneller lesen kann als den optisch unstrukturierten angelsächsischen Text. Es käme auf die Probe an: Schreibe einen englischen Text nach Regeln der deutschen Groß- und Kleinschreibung! Der Leser wird ihn merklich schneller aufnehmen.

Neschles englische Vortragsfolien bestehen entweder fast nur aus Kleinbuchstaben oder schlimmer: nur aus Großbuchstaben. Eine Tortur für den Leser. Wie wohltuend dagegen der mit Groß- und Kleinschreibung versehene deutsche Text. Seine Struktur fällt ins Auge. Wenn Hunderttausende einen Zeitungsartikel lesen und wenn die Groß- und Kleinschreibung deren Lesegeschwindigkeit nur um einige Prozentpunkte erhöht, dann, ja dann müsste man diese Rechtschreibung erfinden, falls wir sie nicht schon hätten. Dem Schreiber macht das Mühe. Sicher! Aber der soll sich – verdammt noch mal, ich sag’ es hier! – den Arsch aufreißen, wenn er dem Leser dadurch die Arbeit erleichtert.

Dagegen sollte dem Schreiber von den Reformern sogar die Mühe abgenommen werden, sie und ihnen in der Anrede groß zu schreiben. Auch das erschwerte Lesern die Arbeit, vor allem wenn sie sie verrichten müssen, wenn sie und sie oder ihnen und ihnen oder sie und ihnen zugleich vorkommt, aber in anderer Person. Meine Briefe und die all meiner Kollegen haben sich nicht geändert. Ich ärgere mich sowieso über das respektlose sie statt des höflichen Sie. Geht es Ihnen oder Dir auch so?

C. Es lebe der Lesekund(ig)e! Der Schreiberling strenge sich an!

Der Leser ist der Kunde des Schreibers. So gesehen wäre es konsequent, die Rechtschreibreform als Rechtlesereform zu begreifen. Einiges hätte sich dann schnell erledigt. Das gilt für die Groß- und Kleinschreibung wie für die allermeisten Neuerungen bei der Zusammen- und Getrenntschreibung. Es ist einfach: Betrachte die Botschaft aus Sicht des Empfängers, den sie ansprechen und der sie verstehen soll, nicht aus Sicht des Senders, der sie produziert. Diesen Grundsatz können Sprachwissenschaftler von Betriebswirten lernen: zugunsten der Sprachökonomie. Sonst gibt es solche Auswüchse wie bei folgender dpa-Meldung vom 29. Juni 2004.

Bombay setzt im Kampf gegen Menschen jagende Leoparden auf Schweine.

Das ist absolut Neschles Lieblingssatz auf Neu-Deutsch! Warum, werte Gemeinde, wird hier gegen Menschen gekämpft? Mit jagenden Leoparden? Auf Schweinen? Setzt Bombay die jagenden Leoparden auf den Schweinen in den Sattel? Mitten im Kampf? Wer beißt hier wen? Leoparden die Menschen oder die Schweine? Oder die Schweine die Leoparden? Oder die Schweine am Ende sogar den Leser?

Anders als in Bombay wird hierzulande im Kampf gegen Menschen die Rechtschreibreform eingesetzt. Einem Schreiberling, dem angeblich seine Arbeit erleichtert wird, stehen Tausende oder Millionen entgegen, denen man zumutet, solchen Unsinn zu lesen und geistig zu verarbeiten. Wo bleibt die Rücksicht auf den Kunden? Die Reform stinkt. Nach der Schweine beißendem Geruch. Mögen also die Schweine beißenden Schweinehunde noch den Letzten beißen, der hier entgegen dieser menschenjagenden Reform nicht schweinebeißenden schreibt.

Man schaut in Deutschland doch sonst so gern auf die Angelsachsen mit ihrer Weltsprache. Formt sogar handlich neue Worte dieser Sprache, wie Handy und Talkmaster. Warum sollte es einer deutschen Sprache, die ansteht, zu einem Provinzdialekt zu verkommen, besser anstehen, die Rechtschreibung zu erleichtern, als einer Sprache, die der weltweiten Verständigung dient? Die Angelsachsen denken nicht im Traum daran, solch einen Unsinn zu vollziehen. Obwohl es bei Eigennamen dort sogar ganz unmöglich ist, sie richtig auszusprechen, falls man sie nicht schon einmal gehört hat.

Dort hat der Staat seine Hände nicht im Spiel. Bei uns zieht er lang und schmutzig eine solche Re-Form durch seinen Staatseingriff, um damit anschließend die Muttersprache zu vergewaltigen: What a mother-fucking nonsense! Deutsche glauben fast immer an das Gute und Soziale im Staatseingriff, Engländer nicht. Da wünschte man sich, dass Lichtenbergs Beobachtung endlich Realität würde: Die englischen Genies gehen vor der Mode her, die deutschen hinterdrein. Doch wir kopieren ja meist das Schlechte. –

Die englische Godmother (Patentante) meiner Tochter erklärte sich für unfähig, mit mir über eine Fahrtroute in Südengland zu reden, weil sie niemals in dieser Gegend war. Sie konnte daher die Ortnamen nicht richtig aussprechen. Sicher gibt es das auch in Deutschland: Neckar-sulm nennen viele Neckars-ulm, Grevenbroich sprechen viele Grevenbreuch aus, nicht Grevenbrooch, und Coesfeld verkommt zu Zösfeld statt Koosfeld zu bleiben. Doch kein Vergleich. Wer einmal Winchester und Worchester, Kansas und Arkansas richtig ausgesprochen hat, der weiß, was ich meine.

Das gilt generell für Schreibweise und Aussprache im Englischen. Da gibt es Massen von Beispielen, die in keinem Vergleich zu ähnlichen Auffälligkeiten in der deutschen Sprache stehen. Sicher können die Schweizer nicht einmal unterscheiden, ob man Bier in Massen oder Maßen trinkt, weil sie das ß zugunsten des ss generell abgeschafft haben. Sie schreiben Dinge gleich, die man unterschiedlich spricht. Bei den Angelsachsen ist das aber viel geläufiger: Jeans, Sean, threat. Dreifach ea, dreifach unterschiedliche Aussprache. Auch da wo wir der gleichen Wortstamm haben: equal (iquell) und equity (equity). Oder die Aussprache ändert sich, wenn man etwa pre (pri) und face (fäiz) zum Vorwort (preface, sprich: prefiss) zusammenführt? Wäre hier eine Rechtschreibreform nicht notwendiger?

Die Engländer sind aber nicht so dusselig! Sie wissen, dass Sprache ein wachsendes Kulturgut ist, ein demokratisches zudem. Es lässt sich nicht durch diktatorische Sprachbefehle verformen, vergewaltigen oder gar umbringen. Schon gar nicht durch so schlechte wie in unserer Rechtschreibreform. Hier bringt der Markt, die Feststellung von Schreibsitten, mehr als ein diktatorisches Oktroi sinnvergessener und unsinnversessener Sprachformalisten.

Nun merken es auch die Sprach-Experten: Der Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung, der meist ein wenig überschätzte ehemalige bayrische Kultusminister Hans Zehetmair[4], zählt zu den Schwachstellen der Reform neben der Zusammen- und Getrenntschreibung die Interpunktion, die Eindeutschung von Fremdwörtern und die Silbentrennung.

Was bleibt da noch? Wo sind die Starkstellen der Reform? Nur Unrat beim Rat? Daher sollte man Experte wie im Ruhrgebiet als Schimpfwort verwenden: Du bist mir vielleicht ein Experte[5]! Dreimal richtig geraten, schon ist man Sprach-Experte? Ein solcher Experte hat offenbar aufgehört zu denken. Warum sollte er das auch tun? Er ist Experte! Da kann er all seine Fehler auf einem sehr engen Gebiet machen. –

Was ist denn leichter geworden für den Schreiber? Trenne nie st, denn es tut ihm weh. Diesen Spruch muss heute kein Kind mehr lernen. Auch die Ursache für diese Trennregel gibt es nicht mehr. Für Schriftsetzer war st ein Buchstabe bzw. eine fixe Buchstabenkombination. Schon damals hat man also die Welt vom Schreiber und dessen Ökonomie aus betrachtet, nicht vom Leser. Alles dient der Erleichterung richtigen Schreibens, nicht der Erleichterung richtigen Lesens und Verstehens.

Das Doppel-s beim Schnellsprechen, Esszett beim Langsamsprechen. So unterscheidet man nach wie vor Masse und Maße auch am Klang. Das wurde – außer in der Schweiz – allgemeinverbindlich gemacht, nicht nur allgemein verbindlich. Doch warum allein beim Doppel-s. Auch bei Zusammen- und Getrenntschreibung hört man am Klang, wie es geschrieben wird: ’allgemeinverbindlich oder allgemein ’verbindlich. So viel Musik ist im Blut der Deutschen, Österreicher und Schweizer und in der Sprache von Bach, Beethoven oder Mozart und außer bei den Sprachexperten offenbar auch so viel Verstand, die inhaltlichen Unterschiede zu erkennen.

Ein paar Ungereimtheiten wurden durch die Reform beseitigt: Rad fahren und Auto fahren passen in der Tat besser zusammen. Doch es wäre auch umgekehrt gegangen: radfahren und autofahren. Auch hätte eislaufen dazu gepasst, das man nach der Reform Eis laufen schreiben sollte. Dazu braucht es aber keine große Reform, die neue Ungereimtheiten hinzufügt. Aus aufwendig sollte aufwändig werden, weil es Aufwand gibt. Aber es gibt nach wie vor auch Aufwendungen. Oh Gott!

Es ist wie bei allen Regeländerungen: Ist es nicht nötig, eine Reform zu machen, dann ist es nötig, keine Reform zu machen. Und wenn überhaupt Reform, dann aus Sicht der Leser. Das ist die Botschaft betriebswirtschaftlichen Denkens. Sprachökonomie ist nämlich wesentlich mehr als Bequemlichkeit des Schreibers:

Die rücksichtslose Beibehaltung der chinesischen Schrift mit etwa 5000 gebräuchlichen Ideo- und Piktogrammen und mit ihren Leiden für den Schreiber zeugt durchaus von einer Rücksicht auf den Leser und seine Lesegeschwindigkeit. Die Schriftzeichen haben den Charakter von Piktogrammen wie die Zeichen an einem Flughafen mit internationalem Publikum oder wie Verkehrszeichen. Jeder versteht Sinn und Inhalt, auch wenn er sich sprachlich anders dazu äußert, etwa Rauchen verboten! oder No Smoking! sagt. Bei der Vielzahl der Sprachen könnte diese Art Schrift vermutlich schneller zu einer Verständigung führen als das Erlernen sämtlicher Weltsprachen und ihrer Schriften. Sehen wir doch die Welt durch die Brille des Lesers! Er soll verstehen! Also weg mit dem Rechtschreiben, her mit dem Rechtlesen!

Es ist kein Wunder, dass auch hier die Gangster schneller sind als die Sprachpolizei. Wer andere täuschen will, geht immer schon vom Leser aus. Derjenige, der im Kleingedruckten herumdruckst statt sich ehrlich und eindeutig auszudrücken. Und natürlich täuscht, wer andere harmlos foppen will.

„Vorsicht“ vor solchen Gaunern! Oder sollte ich sagen: „Achtung“ vor solchen Gaunern! Das lässt dem Respekt ein wenig Raum und der Erkenntnis, dass deren Denken vom Leser her richtiger liegt als die Schreiberorientierung unserer Reformtäter: Es lebe der Kunde! Es lebe der Markt! Man meide den schmutzigen Eingriff des Staates und seinen Hang zur Vergewaltigung unserer Mutter Sprache! Das ist unmoralische Inzucht oder foltert die Sprache und bringt nur sprachliche Krüppel hervor. Es lebe die Sprache, verunstaltet sie nicht, tötet sie nicht! –

Neschles Hündin Lucy weigert sich übrigens seit Jahren, Lesen und Schreiben zu lernen. Er vermutet wegen der Rechtschreibreform. Dagegen hört sie aufmerksam zu, wenn Neschle beim Lesen der seichteren Teile von Dissertationen auch mal nebenbei ein Hörbuch hört (Er ist zwar ein Mann, aber wie sein begrifflich-weibliches Palindrom, das Anna Gramm-Els’chen, durchaus multitasking-fähig!).

Lucy versteht also gut, mag sich aber mit dem ganzen Ärger um den Recht-Schreibkram nicht herumschlagen. Neschle hat es schon erwähnt: Sie ist ein kluger Hund, ja eigentlich eine Art Rüdin! Weil sie außer Hörbüchern auch gern Musik hört, insbesondere vom dörflichen Musikverein, ist sie dort zahlendes Mitglied. (Das stimmt wirklich! Neschle schwört es!)

„Der Produzent tut, was er kann,

doch auf den Kunden kommt es an!“

So hört der Ökonom es täglich,

doch Philologen geh’n unsäglich,

vom Schreiber aus und dessen Schaffen

und machen aus den Lesern Affen.


[1] Das hat schon zu der dickleibigen Dissertation Goethes ökonomisches Wissen beflügelt.

[2] Wenn ich so krank schreibe, wird man mich noch krankschreiben. Das ist jedoch der Versimpelung zum Opfer gefallen und geht gar nicht mehr. Krankschreiben als Substantiv noch. Daran werde ich mich krank lesen, wenn ich wahnsinnig werde, ganz krank lachen bis ich mich krankgelacht oder gekranklacht habe bis ich nicht mehr blutkreislaufe.

[3] Neschle verzichtet auf die Akzente der Zeichensetzung: Du hast den schönsten Hintern weit und breit ist nicht dasselbe wie Du hast den schönsten Hintern, weit und breit. Und Fleißig war sie, nicht ohne Bedauern sehen wir sie scheiden ist nicht dasselbe wie Fleißig war sie nicht, ohne Bedauern sehen wir sie scheiden. Manchmal geht es gar nicht mehr schriftlich, nur noch mit Betonung: Sie sind der größte Idiot, den ich kenne! Antwort 1: Sie ver ’gessen sich. Bessere Antwort 2: Sie vergessen ’sich. Oder sogar ohne besondere Betonung wie bei der früheren Ford-Werbung Ford(?) Besser ankommen! Sicher wäre das besser als Ford zu fahren, aber die hätten auch einen anderen Spruch wählen können.

[4] Vgl. Die Welt vom 9. April 2005.

[5] Sprachlich reichte eigentlich Du bist ein Experte! Aber im Revier sagt man auch: Ich ess mir ne Curry-Wurst mit Pommes-Schranke (Rot-Weiß) und trink mir ein Bier. Wem auch sonst? Ich trinke ein Bier reicht. Aber man spricht so. Das mir betont, dass man es (sich) richtig verdient hat, die Wurst und das Bier. Es geht auch mit Dir: Trink Dir ersma ne Pulle Bier! heißt im Unterton: Du hast sie (Dir) verdient! Manche sagen, Do it yourself! müsste dann folgerichtig heißen: Mach es Dir selbst! Doch wer hat sich das verdient?

PDF-Datei
This post was downloaded by 1177 people until now.

2 Antworten auf „Leon Neschle 6 (13. Woche 2007)“

  1. Feiner Artikel! Nur langsam lesen muss man ihn! Auch die Fußnoten! SChön war da die Sache “Du hast den schönsten Hintern (,) weit und breit. Manchmal ist es aber auch der Bindestrich. Heute morgen las ich in der Zeitung “Bei Jugendlichen gibt es vermehrt Alkohol und Ausweiskontrollen”, gemeint waren aber wohl “Alkohol- und Ausweiskontrollen”.

  2. Fast alles in diesem Artikel stimmt. Aber:

    Zentral verordnete Orthographie herrscht vor UND NACH der Reform. Sie beraubt Kunden und Produzenten gleichermaßen der Auswahl und erzeugt Kosten der Normung (letztendlich als Nebenkosten der Schulpflicht und der Reichsgründung). Eine Vereinfachung in einer solchen Norm kann die Produktionskosten senken, was den Kunden Nutzen bringt. Das ist natürlich in diesem Fall nicht geschehen.

    Englische Rechtschreibung wird durchaus oft als reformbedürftig angesehen, in der Mehrheit aller Fälle allerdings von Anhängern totalitärer Systeme (z. B. George Bernard Shaw). Sie ist auch zum Teil zentralistisch reformiert worden (in den USA, von Noah Webster). Diese Reform ist allerdings in vielen Aspekten ein ebenso großer Rückschritt wie die in Deutschland.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert