Leon Neschle 45 (23. Woche 2007)

Allein der Scharfsinn ist willkommen, doch es will nur Schafsinn kommen

Prosodie verlass uns nie! (fordert Neschles bester Bekannter)

Neschle stellt immer wieder fest: Nur wer musikalisch ist, findet auch den Ton in einer fremden Sprache. Nur wer die Musik beim Sprechen spürt, hört sich so an, wie sich ein Einheimischer anhören könnte. Das gilt nicht nur für tonale Sprachen wie Mandarin, in dem der Ton bei einzelnen Silben auch die Bedeutung macht. Musik ist wie die Mathematik eine Welt-Sprache, doch jede Sprache ist auch Musik.

Die Frage „Was willst Du denn schon wieder?“ scheint im Deutschen schriftlich klar formuliert. Und doch wird gesprochen (oder gesungen) aus ihr etwas völlig anderes je nachdem, welche Sprachmusik man hineinsteckt. „Prosodie“ oder „Prosodik“ nennt man diese Sprachmusik, „prosodisch“ ihren Ausdruck. Der Duden definiert „Prosodie“ hochgestochen als „Lehre von der metrisch-rhythmischen Behandlung der Sprache“.

Wie kommt Neschle auf solch ein Thema? Per Zufall, denn er hatte neulich einen Dissertationsentwurf auf dem Tisch, in dem Prosodie eine wichtige Rolle spielte.

Neschle verachtet unsere Rechtschreibreformer zutiefst, weil sie die Prosodie missachteten, die Sprachmusik vergaßen. Mit Prosodie aber orientieren wir uns im Alltag, können Gemeintes von nicht Gemeintem unterscheiden und manchmal auch Gemeines von nicht Gemeinem. Welch ein Unterschied zwischen dem enttäuschten „Keiner macht mich mehr an“ (Betonung fett!) und dem begeisterten „Keiner macht mich mehr an“ (aus der Werbung!)! Der schriftliche Satz „Keiner macht mich mehr an“ erlaubt uns noch keinen Einblick in das Gemeinte, denn es fehlt die Sprachmusik.

Wo wir Sprachmusik schriftlich ausdrücken können, sollten wir es tun! Allein um der Verständigung wegen. Mit der Zusammen- und Getrenntschreibung ist uns eine Möglichkeit dazu gegeben. Es hört sich anders an, wenn man sagt: „Der Sieger war vom Start bis zum Ziel führend“ oder „Die Argumentation der Verfasserin war nicht zielführend“. Oder „Damit wir uns nicht zu nahe kommen, wollen wir uns auseinander setzen“ versus „Wir sollten Freunde sein und uns nicht dauernd auseinandersetzen“. Auch prosodisch verschiedene Wörter gleichzuschreiben (nicht „gleich zu schreiben“, weil es nicht sofort sein muss), vergrößert die Lücke zwischen mündlichem und schriftlichem Ausdruck, lässt das Gemeinte unklarer werden und beeinträchtigt die Funktion der Schriftsprache für den Leser.

Es zeugt auch nicht von Vertrauen in die Musikalität der Schreiber, ganz abgesehen davon, dass Rechtschreibung ohnehin aus der Sicht des Lesers gestaltet werden sollte (Neschle 6). Das wäre fast dasselbe, als würde man die Zeichensetzung verbieten, mit der man in der Prosodie der Sätze Zeichen setzen kann.

A. Der Ton macht auch die Sprachmusik!

„Was willst Du denn schon wieder?“ war unser Ausgangspunkt. Obwohl es immer ein Fragesatz bleibt, sind verschiedenste Ausprägungen möglich. Nachfolgend einige prosodische Beispiele:

  • „Was willst Du denn schon wieder?“: Nun komm nicht dauernd an, etwas zu wollen!
  • „Was willst Du denn schon wieder?“: Es ist immer derselbe, der mich stört, indem er etwas von mir will: Du!
  • „Was willst Du denn schon wieder?“ Du hast doch gerade etwas bekommen. Ein wenig unersättlich (falls es das geben kann: wenig unersättlich) bist Du schon.
  • Was, willst Du denn schon wieder?“ Das ist ja völlig unglaublich, dass Du schon wieder willst und kannst. –

Im letzten Fall unterstützt das Komma die Sprechpause nach dem erstaunten Ausruf, der eigentlich zwei Fragen trennt: „Was?“ und „Willst Du denn schon wieder?“

Bis auf das Komma fehlen uns hier schriftliche Unterscheidungsmöglichkeiten für das mündlich Gemeinte, vom ungeliebten Fettdruck und unbeliebten Umschreibungen abgesehen: „’Was willst Du denn schon wieder?’, fragte sie mit starker Betonung auf dem ‚Du’“.

Das Komma zeigt uns an, dass an dieser Stelle die Stimme absinkt. Das kann fatale Folgen für die Bedeutung haben. Ein schönes Beispiel dafür ist bei Neschle 6 in einer Fußnote versteckt. Es wird Zeit, es von diesem Fuß(noten)geruch zu befreien:

„Du hast den schönsten Hintern weit und breit“ scheint eine klare und durchaus schmeichelhafte Ansage zu sein. Aber nicht, wenn man die Stimme am Ende des Hinterns absinken lässt. Das verbreitert nämlich den Hintern und verbreitet nicht unbedingt seinen untadeligen Ruf. Dann wird daraus schriftlich: „Du hast den schönsten Hintern, weit und breit.“ Das ist entweder eine spöttische Bemerkung oder das Bekenntnis zu einer besonderen Vorliebe, wenn man dabei mündlich wie folgt betont: „Du hast den schönsten Hintern, weit und breit“. Die Sprachmusik entscheidet eben manchmal beim gesprochenen Wort, ein winziges Komma beim geschriebenen.

Ein ähnliches Beispiel mit Zeichensetzung ist: „Fleißig war sie, nicht ohne Bedauern sehen wir sie scheiden.“ Darin zeigt sich ein dezentes Lob im Zeugnis einer Mitarbeiterin. Das Gegenteil wird aber daraus, wenn man die Stimme ein Wort später senkt. Schriftlich deutet das wieder das Komma an: „Fleißig war sie nicht, ohne Bedauern sehen wir sie scheiden.“

Der Autobauer Ford hatte den Werbespruch „Ford. Besser ankommen.“ Damit war gemeint, man käme im Ford besser (erholter, entspannter) an als nach der Fahrt im Zug oder in irgendeinem anderen Auto. Doch Sprachmusikbanausen verstanden den Spruch anders. Im schriftlichen Ausdruck etwa so: „Ford? (Nein!) Besser ankommen!“ Also: „Ford fahren? Um Gottes willen! Da wäre es doch besser anzukommen“.

Irgendwann erfrischt es jeden. Bei Ford merkte man etwas und änderte die Werbung. (So wie bei Douglas, nachdem man begriffen hatte, was die Leute verstanden, wenn man warb mit „Come in and find out!“ Die dachten meist „Komm herein und finde wieder heraus!“. Das hätte auch Werbung für einen Irrgarten sein können.)

In manchen Fällen fehlen uns sogar die Möglichkeiten, das Gemeinte durch Zeichensetzung zu verdeutlichen. Dann geht es nur noch mit Betonung, wie in der Antwort auf die folgende Beschimpfung: „Sie sind der größte Idiot, den ich kenne!“

Die erste Antwort ist plump und belehrend: „Sie vergessen sich.“ Das hat schon immer ein Oberlehrer zum anderen gesagt. Die zweite Antwort zeugt von unvergleichlich mehr Witz und verlangt etwas Intelligenz vom Zuhörer: „Sie vergessen sich.“ Mit dieser Antwort macht man den Beleidiger zum größten Idioten, während man selbst – durchaus noch bescheiden – nur in die Rolle des zweitgrößten schlüpft. Ein solcher Return würde beim Tennis den Aufschläger verdattert zurücklassen.

Solche Beispiele finden sich auch und gerade in ganz alltäglichen Sätzen. Das folgende Beispiel habe ich von einem lieben Freund „geliehen“, der mir deshalb hoffentlich nicht böse ist. Immerhin könnte ihn das ehren, wenngleich ich hier aus Gründen der Vereinfachung auf die komplette und formal richtige prosodische Darstellung verzichte (Man möge mir das nachsehen! Dies ist kein Artikel für Fachleute.) :

1) „Was hast Du gemacht?“ Ohne deutliche Stimmenanhebung gesprochen, ist die Frage rein informativ ohne negativen Beiklang. Sie zeugt von Interesse für den anderen.

2) Was hast Du geMACHT? Mit einer überkräftigen Stimmenanhebung klingt plötzlich mit „Du Unglücksrabe!“.

3) WAS hast Du gemacht? Das klingt nach: „Ich glaub‘, ich hör‘ nicht richtig: Was hast Du gemacht?“.

4) Was hast Du gemacht? Hier meint der Sprecher: „Ich will nicht wissen, was die anderen taten. Ich will wissen, was Du gemacht hast?“

5) „Was hast Du gemacht!“ als verkürzter Ausrufesatz arbeitet schriftlich schon mit dem Einsatz eines anderen Zeichens. So macht derselbe Text den direkten Vorwurf: „Was hast Du nur angestellt!“

Würden wir nicht am Klang feststellen, was gemeint ist, wären wir aufgeschmissen. So wie der völlig unmusikalische Autofahrer, dessen Navigationsgerät durch eine weibliche Stimme zu ihm sagte: „Nach dreihundert Metern links halten!“. Das tat er wie geheißen und verursachte jede Menge Auffahrunfälle, weil er mitten im Autobahnkreuz auf der linken Seite stehenblieb (Ich schreibe nicht „stehen blieb“, denn er saß ja im Auto!). Seine navigatorische Beigeordnete hatte gesagt: „Nach dreihundert Metern links halten!“. Er aber folgte dem Befehl: Nach dreihundert Metern links halten!“. So ist es denn allein die Prosodie, die uns hier vor fatalen Irrtümern mit schweren Unfallfolgen bewahren kann.

Während wir im Alltag täglich mit der Prosodie umgehen, nahmen die Rechtschreibreformer an, sie könnte uns nicht vor Rechtschreibfehlern bewahren. Deshalb gestalteten sie die Zusammen- und Getrenntschreibung ohne Rücksicht darauf.

B. Prosodie und Rechtschreibung

Zur Zeit Karls des Großen beherrschte nicht einmal der Kaiser die Rechtschreibung. Derzeit aber sollen es alle können. Doch zurzeit ist es umstritten, ob es nach der Prosodie nicht immer „zur Zeit“ heißen sollte. Denn anders als bei „derzeit“ liegt die Betonung hier auf der zweiten Silbe.

Früher schreib man trotz des Bedeutungsunterschiedes wegen derselben Prosodie immer „zur Zeit“. Die Prosodie formte auch unsere Rechtschreibregeln. Heute soll man in einem Fall „zurzeit“ wie „derzeit“ schreiben. Viel häufiger deutet die Prosodie aber inhaltliche Unterschiede an, gerade wenn der Sachverhalt nicht so klar ist wie oben. Dann wird es gefährlich, bei der Rechtschreibung auf sie zu verzichten, denn dann kommt das Gemeinte nicht mehr zum Leser.

Wenn wir – und damit meine ich nicht nur, vielleicht sogar gerade nicht die Verbildeten – in der Lage sind, in unserer Alltagssprache allein am Klang, an der Betonung und am Rhythmus des Sprechers solche Bedeutungsunterschiede zu erkennen, warum sollen wir dann

  1. nicht in der Lage sein, viel gröber zu unterscheiden, ob jemand „allgemein verständlich“ sagt oder „allgemeinverständlich“,
  2. darauf verzichten, diesen Unterschied auch schriftlich kenntlich zu machen, wo es die deutsche Sprache früher erlaubt hat.

Die Reform hatte uns zunächst dieser Möglichkeit beraubt. Aber „allgemein verständlich“ bedeutete immer „im Allgemeinen (bis auf ein paar Unverständlichkeiten) verständlich“, während „allgemeinverständlich“ immer hieß „für jeden (die Allgemeinheit) ganz und gar verständlich“. Die Reform der Reform hat die Schreibweise an dieser Stelle wieder auf die Varianten und Ausdrucksmöglichkeiten der alten Schreibweise zurückgeführt.

Die Reformer hatten entscheiden: Man soll für die Rechtschreibung weder fragen (müssen), ob etwas wörtlich oder im übertragenen Sinn gemeint ist, ob man eine offen stehende Tür (wörtliche Bedeutung) oder einen offenstehenden Betrag (übertragene Bedeutung) meint. Auch die Betonung (die Prosodie) soll keine Rolle spielen: Nicht der Ton sollte mehr begründen, warum „dafür halten“ (wörtlich) getrennt („Ich werde doch nicht extra dafür halten“) und ein anderes „dafürhalten“ zusammengeschrieben wird.

Allein formalgrammatische Kriterien sollen nun bestimmend sein. Das aber erschwert die Rechtschreibung und erleichtert sie nicht. Denn nun entscheiden statt Verstand und Gehör allein gepaukte Regeln. Die neuen Regeln verlangen sogar, dass man Verstand und Gehör ausschaltet. Sie verbieten den Menschen Denken und Hören, machen sie zu Sklaven sinnverletzender, formalbürokratischer Übungen.

Neschle macht hier Schluss. Weiteres steht in Neschle 6 mit Lieblingsbeispiel: „Bombay setzt im Kampf gegen Menschen jagende Leoparden auf Schweine“. Da wird der Leser mit Beispielen „wohlversorgt“.

Oder „wohl versorgt“? Lassen wir es bei der ersten Version. Dem Leser wird wohl bekannt sein warum, selbst wenn er kein wohlbekannter Rechtschreibreformer ist.

Niemals wird Neschle sich Denken und Hören von Rechtschreibreformern verbieten lassen. Seine Sprache lebt und er wird sie leben lassen: gegen ihren formalgrammatischen Tod in den gedanken- und tonlosen Welten von Rechtschreiblingen, die den Leser und Hörer vergessen haben.

Rechtschreibung kriegt man heute hin

ganz ohne Wortklang, ohne Sinn.

Allein nach der Grammatik Regeln

soll man durch Wörterseen segeln.

So hat der Rechtschreibbürokrat

Musik und Geist uns ganz erspart.

Vorn war’n wir einst im Dichten, Denken,

nun soll’n wir uns das alle schenken.

Diese Reform kann echt nur lieben,

wer geistig ist zurückgeblieben.

Der Scharfsinn ist nicht mehr willkommen,

wo über uns soll Schafsinn kommen.

Soll’n trotten wie das liebe Vieh

nach neuester Orthografie.

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