Au … Aufschrei 42

Entlassung wegen Eselei?

Compliance: Herrschaft von Form und Bagatelle statt Inhalt und Bedeutung.

Neschle schämt sich. Wenn er Vorlesungen hält, kommt er fast immer mit Folienstiften nach Hause. Einmal im Monat wird es (ihm) dann aber zu bunt. Er packt alle Stifte zusammen, um sie wieder im Schreibtisch in der Uni zu deponieren. Doch zu spät!

Brötchen-Bagatellen, Wurstzipfel-Wegnahme, Strom-Stehlen für das private Handy und die bekannte Pfandgutschein-Pferpfehlung: Alles wurde jüngst als Grund für eine Entlassung dargestellt. Wozu soll da Neschles „Filzen“ von Folienstiften führen?

Geht es nach den Presseberichten, müsste Neschle gleich mehrfach im Monat entlassen werden. Da hilft nicht, dass er von den Stiften zu Hause keinen Gebrauch macht. Auch nicht, dass er sie zurückbringt. Geklaut ist geklaut, ob bewusst oder unbewusst. Da kann nicht einmal entlasten, dass Neschle privaten Aufwand tätigt, um Arbeiten für seinen Arbeitgeber zu erledigen. Dabei ist er freiwillig so dumm!

Die Presse klagt derweil die Unternehmungen an, Mitarbeiter wegen geringwertiger Pfandgutscheine oder belegter Brötchen zu entlassen: Wird man demnächst sogar wegen der Betätigung des Abzugs auf der Betriebstoilette hinausgeworfen, wenn man das Wasser nicht mitbringt? Wehe man stiehlt künftig etwas von der beruflichen Arbeitszeit mit einem privaten Satz über die Fußballspiele am Wochenende!?

Der wichtigste Vorwurf: grobe Unverhältnismäßigkeit: Mitarbeiter, die der Unternehmung zum Teil über Jahrzehnte treu gedient haben, werden wegen winziger Bagatellen restlebenslang in die Wüste geschickt. Journalisten und Leser glauben das jedenfalls oder wollen das gern glauben. Sie unterstellen den Managern öffentlich Unmoral und heimlich komplette Verblödung. Denn welcher halbwegs fähige Kopf entlässt Leute, die er für den Unternehmenserfolg braucht wegen solcher Lappalien? – Niemand! Außer er sei komplett verblödet und zugleich ein moralischer Teufel, ein unterirdischer Mensch. – Ist das denn die deutsche Managerrealität? …

Überlegen wir mal und billigen wir den Managern einfach mal ein Wenig Geist zu und sogar ein klitzekleines Maß an Moral. Dann wird klar:

Solche Bagatellen und Lappalien sind nie und nimmer Ursache oder Grund für die Entlassung guter Mitarbeiter. Dann würde sich eine Unternehmung auf Dauer selbst den größten Schaden zufügen? Von halbwegs dem Nebel der Blödheit und der Hölle teuflischer Unmoral entronnenen Managern wird eine Kündigung also um Himmelswillen nicht wegen(!) einer Wurstzipfel-Wegnahme ausgesprochen. Die ist, ebenso wie andere Bagatell-„Delikte“, nur „willkommener“ Anlass. Denn schlechte Arbeitsleistungen und selbst jahrelange Arbeitsverweigerung ermöglichen in unserer Rechtsordnung kaum mehr eine Entlassung, selbst wenn die Unternehmung und andere Mitarbeiter seit Jahren Schaden genommen haben.

So weit und tief zu denken, ist freilich nicht die Sache von Journalisten und Bild-Zeitungslesern. Auf die Titel- und Tittenseite des Bild(ungs-)Blattes schaffen es nur schwerste Geschütze, auch wenn sie mit Konfetti (oder Silikon) gefüllt sind. Realismus würde den schönen Schein der „Schlacht“-Zeilen zerschlagen. Er würde zu tiefgründigen Fragen führen, mit denen sich der Mensch spätestens seit Lady Gaga nur noch ungern befasst. Man müsste nämlich fragen, ob nicht unser Recht selbst und der Umgang der Justiz damit zu dieser bigotten Doppelmoral führen:

Weil die Unternehmung aus wirklich bedeutenden Gründen nicht mehr entlassen kann und darf, muss sie auf einen solchen blöden Bagatellfall warten, um die Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Das wird den Managern von ahnungslosen oder bigotten Journalisten dann als Unmoral vorgehalten.

Es ist die Frage nach der Wertung von Entlassungsgründen durch das deutsche Recht. Dieses Recht geht „rein formal“ vor und unter Missachtung der materiellen Bedeutung. Im Rechtempfinden des Bürgers wird dadurch mit zweierlei Maß gemessen: Die Großen dürfen sich alles leisten, die Kleinen entlässt man schon wegen Lappalien. Dabei ist es nur die Frage, ob man die richtigen Fehler macht oder die falschen. Bei den richtigen Fehlern reichen selbst grobe Verstöße nicht zur Entlassung, bei den falschen schon geringste Bagatellen und Lappalien.

Die Lappalien-Hysterie ergreift die Wirtschaft derzeit sogar in den oberen Etagen. Neschle erlebt es selbst: Er bekommt von einer Unternehmung plötzlich eine Freikarte für ein Fußballspiel! Schön, aber warum? Die war zunächst nämlich deren Geschäftspartnern zugedacht! Die aber nahmen sie nicht an. Aber warum?!

Weil diese Geschäftspartner glauben, sie nicht mehr annehmen zu dürfen. Bestechung?! Extreme Angst, verdächtigt zu werden!!! Wegen der Fußballkarte! Was könnte deshalb nicht alles manipuliert werden bei künftigen Verträgen. Blödsinn?! Es ist zum Teil sogar noch extremer, eine echte Hysterie. Darin hat selbst die Weihnachtskarte ihre Unschuld verloren:

„Will der Geschäftspartner mich dadurch beeinflussen, mich gefügig und manipulierbar machen?“ Möglich wäre es immerhin!? Wehret den kleinsten Anfängen und lehnt auch den Empfang der Weihnachtskarten ab! Selbst den kleinsten Geschenken oder Aufmerksamkeiten traut man alles zu. Sogar die Höflichkeit wird bald wohl auf der Strecke bleiben müssen und man wird nur noch hässliche und unnahbare Menschen im Außendienst zulassen, weil alles andere nach Manipulation riecht. Attraktive Frauen und Männer werden dann im Back-Office eingesperrt.

Diese Hysterie wurde wieder mal importiert. Gedankenlos! Sie trägt an dem Namen „Compliance“ und ist der Wurmfortsatz „politischer Korrektheit“. „Compliance“ macht tausenden von Leuten Angst, wegen Kleinigkeiten und Kinkerlitzchen ihre Arbeit zu verlieren. Jedes vernünftige Maß ist dabei abhanden gekommen.

Wir stellen mit dieser „Compliance“ immer mehr Fettnäpfchen auf, erwarten aber, dass die Wirtschaft tanzt. Das wird sie nicht tun! Und hier beginnt die Unmoral dieser neuen Moral: Sie ist der Start in die neue Welt moralinsaurer Bigotterie.

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