Die Erbsünden des Liberalismus – Essay in neun Teilen und sieben Sünden
Teil 8
„Die nationale Welt ist viel zu klein für echten Liberalismus.“ (Neschle)
Die siebte Erbsünde: der National(liberal)ismus
Die siebte Erbsünde trifft nicht den Liberalismus insgesamt, sondern eine seiner Mutationen. Wie die Libertären sind auch die National-Liberalen keine Liberalen, jedenfalls nicht im engeren Sinne. Ihre Beschränkung der Verantwortung für die Freiheit von anderen auf historische Landesgrenzen kommt zwar der rechtlichen Machbarkeit und nationalen Gesetzesverantwortung entgegen, verfehlt aber die ideologische Notwendigkeit eines globalen Liberalismus.
Wenn National-Liberale sich nicht gerade um die Gründung einer eigenen Partei bemühen wie in den Anfängen der AfD, von deren einstigen national-liberalen Ansätzen heute nichts mehr besteht, finden sie sich als konservative Splittergruppen mehrerer Parteien, in Deutschland etwa bei CDU und FDP, oder in Splitterparteien wie Bernd Luckes LKR (Liberal-Konservative Reformer). Liberales gepaart mit nationalem Denken: Da besteht immer die Gefahr, dass eine Seite die Oberhand gewinnt. –
In einem Bonmot heißt es „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit“. Das muss nicht immer so sein. Manchmal gilt sogar das Gegenteil, wie man an der englischen Monarchie erkennt. Doch ist verwunderlich, was zuweilen geschieht, wenn man nicht mit der Zeit geht. Ein Beispiel dafür sind die Deutschen Burschenschaften im Gefolge der Ur-Burschenschaft von 1815.[1] Einst revolutionäre Studentenbewegung, der Französischen Revolution und der Einigung Deutschlands als Nation verpflichtet, findet man dort heute oft nur noch national-konservatives Gedankengut.
Was früher revolutionär war, etwa die Forderung nach einer Konstitutionellen Monarchie, kommt heute ultra-konservativ daher, weil die Monarchie selbst abgeschafft ist. Auch die Bürgerlichkeit und die Beschränkung auf einen Männerklub fallen hinter die Entwicklung des Liberalismus zurück, die längst das Allgemeine Wahlrecht und das Frauenwahlrecht im Besonderen gebracht hat. In dieser Hinsicht haben die Burschenschaft anders als zu Beginn des 19.Jahrhunderts keinerlei wegweisende Wirkung mehr für die Gesamtgesellschaft. Sie wirken in ihrem Konservativismus wie ein Relikt der Geschichte. Kauzig und schrullig, aber harmlos. Meist jedenfalls!
Einerseits liegt der Ursprung der Nationalliberalen in der Französischen Revolution, die nach Kant trotz ihrer Grausamkeiten „eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat“.[2] Andererseits stehen dem revolutionären Geist dieser Urliberalen die napoleonischen Kriege und die französische Besetzung entgegen. Diese Einflüsse, die beide ihre Quelle in Frankreich haben, führten zu einer seltsamen geistigen Gemengelage bei den Liberalen in Deutschland:
„Die deutschen Untertanen verbünden sich nicht gegen ihre feudalen Herren, sondern mit den Fürsten gegen die französische Fremdherrschaft. Ein Verhängnis für den deutschen Liberalismus, der fortan zwischen Freiheitsidee und Königstreue hin- und hergerissen ist. Hier liegen die Wurzeln der für die spätere Aufsplitterung des Liberalismus in konkurrierende Parteien. Und es ist ein Verhängnis für die deutsche Nationalbewegung, die eigentlich Teil des liberalen Aufbruchs ist. Denn in die emanzipatorische Idee der Nation als freiheitliche Bürgergesellschaft mischt sich von Anfang an das Gift des Franzosenhasses, des völkischen Nationalismus.“
Ein Teil der Liberalen hat insoweit dazu beigetragen, die nationalen und völkischen Ideen zu fördern, denen die Idee der Freiheit fern und der Kadavergehorsam nahe ist. Das geht bis in die Gründungsgeschichte der AfD. So ist Sven Trischler, Vorsitzender des Stresemann-Kreises, der in der FDP ein national- und rechtsliberales Netzwerk unterhielt, der AfD beigetreten.[3] Die AfD wurde zwar als „nationalliberale“ Partei geboren und war bei seinem Übertritt nach außen hin noch nationalliberal. Doch nach und nach ist sie zu einer rein nationalistischen Partei verkommen.
Die Geschichte hat gelehrt, dass es dazu kommen würde. Der Parteigründer Bernd Lucke und seine Mitstreiter ließen sich auf immer mehr Völkische und Völkisches ein, bis sie am Ende selbst davor fliehen mussten. Naivität und Geschichtsvergessenheit müssen sie sich vorwerfen lassen, Rechtsradikalismus nicht. Der war nämlich ihr Grund, die AfD zu verlassen, sicher schon ein wenig zu spät. Lucke hat die nationalistischen Eiferer unterschätzt.
Beim „Nationalismus“ verdeckt freilich der Gleichklang der Worte historisch bedingt wichtige Unterschiede: „Nationalismus“ zu Zeiten der Burschenschaften war eine Einigungsbewegung deutscher Kleinstaaten zu einer deutschen Nation, vergleichbar mit der Einigungsbewegung in Europa. Nationalismus heute ist Trennung und nationale Abschottung von Europa und der Welt und damit etwas fundamental anderes:
Obgleich man sehr wohl verstehen kann, warum der Liberalismus damals mit einer nationalen Einigungsbewegung einherging, ist es heutzutage unverständlich, dass Liberale etwas mit einem Nationalismus zu tun haben, der auf Trennung und Abschottung von Europa und der Welt setzt. Denn eine der wichtigsten Aufgaben liberaler Ideologie ist, auch „das Prinzip des Eigentums global und generationenübergreifend zu denken“[4]. Sowohl mit Internationalität als auch mit Umwelt- und Klimaschutz tun sich National-Liberale schwer, ganz zu schweigen von der AfD oder noch extremeren Nationalisten. Das Bonmot, dass Liberale eher an die Menschheit denken als an die Nachbarn[5], gilt für den National-Liberalen jedenfalls nicht.
Die Sozialisten haben die Weltoffenheit der Liberalen nie erreicht, obwohl deren Propaganda weltweit die Internationalität der Weltrevolution verkündete und die internationale Solidarität beschwor. Ich habe selten so viele Plakate gesehen, die das Wort „international“ im Schilde führten wie vor der Wende in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR. Gleichwohl kam mir keine Stadt der Welt klein- und spießbürgerlicher vor. Propaganda, geistiger Horizont und Taten wollten nicht zusammenpassen. Vielleicht ist das sogar ein Teil der Erklärung, warum die rechte Bewegung gerade in den Neuen Bundesländern auf so guten Nährboden stieß.
Mit ihren Anti-Globalisierungskampagnen sind Linksradikale politisch nicht so weit entfernt von Rechtsradikalen. Dabei ist Globalisierung heute überall, bei der Migration, bei Umwelt und Klima, am Welt- und Kapitalmarkt, bei der Verbreitung von Viren aller Art, ob bei Tieren, Menschen oder im Internet. Man kann der Globalisierung nicht mehr ausweichen. Globalisierung ist daher keine Frage des „Ob“, sondern des „Wie“. Dumpfer Nationalismus kapituliert vor dieser Frage und findet die „Lösung“ darin, dass er ihr ausweicht, sich von der Welt abzuschotten versucht oder diese Frage unbeantwortet lassen will. Politische Komplexitätsreduktion. Populistische Simplifizierung: America first, Germany first, ….
Diese Simplifizierung ist die Tendenz nationalistisch-identitärer und populistischer Bewegungen weltweit, selbst im angeblich aufgeklärten Europa: in Polen, Ungarn, Italien, Großbritannien und in großen Teilen von Frankreich oder Deutschland. Es ist daher viel komplexer, sich zu einer liberalen Ideologie zu bekennen, mit grenz- und generationsüberschreitender Verantwortung für die Freiheit der anderen. Da gibt es keine klaren und einfachen Lösungen, nur ein Abtasten und Fortschreiten von Verbesserung zu Verbesserung. Denn:
„In globalisierten Welt wird das Konzept des Liberalismus ziemlich hohl, wenn man individuelle Freiheit immer nur innerhalb der aktuellen Staatsgrenzen einfordert – und nur mit Blick auf die eigene Generation. Genauso hohl übrigens wie linkes Denken, das sich nur für Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich im nationalen Rahmen interessiert.“[6]
Echten Weltverbesserern von der extremen Linken und den Grünen-Fundis gehen die von Liberalen favorisierten Abstimmungs- und Vereinbarungslösungen nicht schnell genug, nicht weit genug, nicht gut genug, aber vor allem nicht sicher genug im Sinne ihrer allein als „richtig“ postulierten Lösungen. Einschränkungen durch die Gewaltenteilung behindern sie in jeder Hinsicht. Gut genug sind für sie nur Lösungen, die inhaltlich mit der eigenen Ideologie übereinstimmen. Internationale Absprachen und Verhandlungen stören da, weil sie viel zu selten genau zu ihrem Ergebnis kommen. Für sie gibt immer nur eine Lösung: die eigene. Der müssten im Gefolge einer Revolution ohnehin alle folgen. Nur eine anti-demokratische Lösung kann zu dem von ihnen gewünschten Ergebnis führen, wird es jedoch aller bisherigen Erfahrung nach nicht tun. (Teil 1)
Die „Lösung“ der Rechten: Ausklammerung und Nichtbeantwortung der Frage des „Wie?“ der Globalisierung, und die „Lösung“ der Linken und Öko-Fundis: eine kollektive Lösung und nur die eigene, bilden die Extrempunkte. Beide Lösungen gleichen sich darin, dass sie sich einer gewaltfreien Entwicklung mit offenem Ende verweigern. Denn friedliche internationale Bemühungen sind stetig im Fluss, führen niemals zu einem dogmatisch vordefinierten Ende; es gibt dabei sogar Rückschritte.
Doch keine Lösung, welche die Freiheit anderer respektiert, darf dem Weg dieser Extremisten folgen. Dies schließt nicht einmal aus, dass sie zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Doch der Weg dahin fordert eine eigene Bewertung und da gibt es für Liberale eine klare Grenze: Eine internationale Durchsetzung der eigenen Lösung mit Gewalt und ohne jede nationale Kompromissbereitschaft scheidet aus.
Das spricht klar gegen den Weg der Nationalliberalen und ihrem „Germany first!“. Ihr Verschwinden in die Bedeutungslosigkeit wird die anderen Liberalen nach und nach von der Erblast des nationalen Liberalismus befreien. In unserer heutigen Welt ist Nationalliberalismus nur noch ein Anachronismus.
Nationalismus war ohne Zweifel die Sünde eines Teils der Liberalen. Es war aber ein ganz anderer Nationalismus als heute. Fortschrittlich, weil es galt die Grenzen deutscher Kleinstaaterei zu überwinden. Und er hatte zur Zeit der Gründung des deutschen Reiches viel mehr Anhänger. Nach der Gründung des Deutschen Reiches bekam das Wort „national“ aber eine andere politische Bedeutung: Da ging es nicht mehr um Gründung, sondern um Erhalt und Verteidigung gegen echte und eingebildete Feinde. Und da machten die National-Liberalen nicht immer eine gute Figur.
Als Erbsünde hängt National-Liberalismus noch allen Liberalen an. Die fortschrittlichen Liberalen sollten Buße tun und sich ein für alle Mal von den National-Liberalen lösen. Durch seine naive Nähe zu freiheitsfeindlichen National-Sozialisten hat der National-Liberalismus dem Ruf dem Liberalismus insgesamt geschadet. Und die Geschichte der AfD zeigt, dass er es wieder tun wird. Denn der liberale Umgang mit Nationalisten ist seine entscheidende Schwäche. Wer den Liberalismus verteidigen will, darf nicht liberal gegenüber denen sein, die ihn beseitigen wollen und mit ihm die Demokratie und die soziale Verantwortung für die Freiheit über alle Grenzen und Generationen hinaus.
[1] Vgl. den Artikel Burschenschaft https://de.wikipedia.org/wiki/Burschenschaft. (05.03.2020)
[2] Zitiert nach Winfried Sträter, Freiheit oder Liberalismus (3/4) – Die Ambivalenz der liberalen Bewegung in Deutschland,https://www.deutschlandfunkkultur.de/freiheit-oder-liberalismus-3-4-die-ambivalenz-der-liberalen.976.de.html?dram:article_id=310804. (16.03.2020) Dort auch die folgenden Zitate des Autors.
[3] Vgl. dazu Wikipedia – Nationalliberalismus, https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalliberalismus. (20.03.20)
[4] Dieter Schaas, Liberalismus – Der Sinn der Freiheit, Abschnitt „Die dreifache Rolle des Liberalismus, https://www.wiwo.de/politik/deutschland/liberalismus-der-sinn-der-freiheit/8881474.html. (20.03.20)
[5] Zu dieser Aussage von Carlo Strenger vgl. Gerfried Sperl, Die Liberalen und ihr fehlender Massenappeal, https://www.wienerzeitung.at/meinung/gastkommentare/2029569-Die-Liberalen-und-ihr-fehlender-Massenappeal.html. (29.04.2020)
[6] Christian Stöcker, Freiheit vs. Klimaschutz – Was heißt das eigentlich noch, „liberal“, https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/freiheit-vs-klimaschutz-was-heisst-das-eigentlich-noch-liberal-a-1280165.html. (27.04.2020)
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