Ulkerei 25

Gedicht des Tages

Wenn die Börsenkurse fallen,
regt sich Kummer fast bei allen,
aber manche blühen auf:
Ihr Rezept heißt Leerverkauf.

Keck verhökern diese Knaben
Dinge, die sie gar nicht haben,
treten selbst den Absturz los,
den sie brauchen – echt famos!

Leichter noch bei solchen Taten
tun sie sich mit Derivaten:
Wenn Papier den Wert frisiert,
wird die Wirkung potenziert.

Wenn in Folge Banken krachen,
haben Sparer nichts zu lachen,
und die Hypothek aufs Haus
heißt, Bewohner müssen raus.

Trifft’s hingegen große Banken,
kommt die ganze Welt ins Wanken –
auch die Spekulantenbrut
zittert jetzt um Hab und Gut!

Soll man das System gefährden?
Da muss eingeschritten werden:
Der Gewinn, der bleibt privat,
die Verluste kauft der Staat.

Dazu braucht der Staat Kredite,
und das bringt erneut Profite,
hat man doch in jenem Land
die Regierung in der Hand.

Für die Zechen dieser Frechen
hat der Kleine Mann zu blechen
und – das ist das Feine ja –
nicht nur in Amerika!

Und wenn Kurse wieder steigen,
fängt von vorne an der Reigen –
ist halt Umverteilung pur,
stets in eine Richtung nur.

Aber sollten sich die Massen
das mal nimmer bieten lassen,
ist der Ausweg längst bedacht:
Dann wird bisschen Krieg gemacht.

Verfasser: Richard Kerschhofer


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2 Antworten auf „Ulkerei 25“

  1. Verfasser höchstwahrscheinlich jetzt bekannt.
    Auszug aus einem Artikel der FTD vom 30.10.2008 „Dichtung und Wahrheit“:
    Der Text stammt aus anderer Feder. Tucholsky konnte 1930 noch gar nicht wissen, was Derivate überhaupt sind. „Das Gedicht ist definitiv nicht von Tucholsky“, sagt Friedhelm Greis, der für die Berliner Tucholsky-Gesellschaft arbeitet.
    Tucholsky-Experte Greis versucht auf seiner Internetseite Sudelblog.de die Entstehung des Missverständnisses zu rekonstruieren: Ursprung der Legende sei wahrscheinlich eine Website, auf der eine tatsächlich 1930 in dem Magazin „Weltbühne“ erschienene Kapitalismusschelte von Tucholsky steht – direkt unter den Versen, die ihm jetzt zu Unrecht zugeschrieben werden. Unter diesen wird als Autor das Pseudonym „Pannonicus“ angegeben.
    Schnell spekulierten einige im Internet, ob sich dahinter ein gewisser Richard Kerschhofer aus Wien versteckt. Und tatsächlich: Ja, „Pannonicus“ sei sein Pseudonym, bestätigt der Wirtschaftswissenschaftler der FTD. Seit seiner Pensionierung widmet sich der inzwischen 69-Jährige dem Schreiben ungezählter Leserbriefe, Kolumnen und Gedichte. Die Reime zur Finanzkrise veröffentlichte er zum ersten Mal am 27. September in der konservativen „Preußischen Allgemeinen Zeitung“. Nebenbei schreibt Kerschhofer auch für das eher rechtsgerichtete Magazin „Zeitbühne“.

    Das ist aber wirklich Tucholsky:

    Die freie Wirtschaft
    —————
    Ihr sollt die verfluchten Tarife abbauen.
    Ihr sollt auf euern Direktor vertrauen.
    Ihr sollt die Schlichtungsausschüsse verlassen.
    Ihr sollt alles Weitere dem Chef überlassen.
    Kein Betriebsrat quatsche uns mehr herein,
    wir wollen freie Wirtschaftler sein!
    Fort die Gruppen – sei unser Panier!
    Na, ihr nicht.
    Aber wir.
    Ihr braucht keine Heime für eure Lungen,
    keine Renten und keine Versicherungen.
    Ihr solltet euch allesamt was schämen,
    von dem armen Staat noch Geld zu nehmen!
    Ihr sollt nicht mehr zusammenstehn –
    wollt ihr wohl auseinandergehn!
    Keine Kartelle in unserm Revier!
    Ihr nicht.
    Aber wir.
    Wir bilden bis in die weiteste Ferne
    Trusts, Kartelle, Verbände, Konzerne.
    Wir stehen neben den Hochofenflammen
    in Interessengemeinschaften fest zusammen.
    Wir diktieren die Preise und die Verträge –
    kein Schutzgesetz sei uns im Wege.
    Gut organisiert sitzen wir hier …
    Ihr nicht.
    Aber wir.
    Was ihr macht, ist Marxismus. Nieder damit!
    Wir erobern die Macht, Schritt für Schritt.
    Niemand stört uns. In guter Ruh
    sehn Regierungssozialisten zu.
    Wir wollen euch einzeln. An die Gewehre!
    Das ist die neuste Wirtschaftslehre.
    Die Forderung ist noch nicht verkündet,
    die ein deutscher Professor uns nicht begründet.
    In Betrieben wirken für unsere Idee
    die Offiziere der alten Armee,
    die Stahlhelmleute, Hitlergarden …
    Ihr, in Kellern und in Mansarden,
    merkt ihr nicht, was mit euch gespielt wird?
    Mit wessen Schweiß der Gewinn erzielt wird?
    Komme, was da kommen mag.
    Es kommt der Tag,
    da ruft der Arbeitspionier:
    „Ihr nicht.
    Aber Wir. Wir. Wir.“

    Kurt Tucholsky alias Theobald Tiger in „Die Weltbühne“, 1930

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