Leon Neschle 72 (38. Woche 2011)

Aus-Bildung im Abseits der Bildung

Ausbildung heißt Ausbildung, weil es dann aus mit der Bildung ist. (Neschle)

Nicht auf jede Einbildung kann man sich was ausbilden. (Neschle)

Am vorletzten Wochenende war bei Neschle Zeit für Gespräche mit Professoren. Die waren sich einig: Wir leben im Zeitalter der Wissenssimulation. Die Ab- und Fertigprüfung immer kleinerer Wissensabschnitte eröffnet Simulationsspielräume für Auswendiglerner und Nichtversteher mit gutem Kurzzeitgedächtnis. Ihre Gedächtnisschnipsel scheinen in vielen Mini-Klausuren kurz auf, leuchten aber nicht lange und können schon gar niemanden mehr erleuchten. Und das, wo außerhalb des Bildungsbereichs seit langem die „Ära der Nachhaltigkeit“ eingeläutet ist.

Bildungspolitkern muss man vorhalten, dass ihre Taten (ihre Worte sollen hier nicht stören;-)) nicht zur Nachhaltigkeit der Bildung führen, sondern die Simulation von Wissen fördern. Eine Generation von Flachdenkern macht derzeit die (Vor-)Runde in der universitären Gesellenausbildung, genannt Bachelor! Warum?

A. Das kaum tragbare Leid des Ausgebildetwerdens

„Wo wird denn mein Mädchen/mein Junge gut ausgebildet?“: Das fragen sich bundesweit deutsche Eltern in der passivischen Leideform, gerade die aus der Helikopter-Fraktion (Neschle 70). Wie an einem (fast) untätigen Stück Holz (das arbeitet immerhin selbständig!) soll sich die beste Ausbildungsinstitution an ihrem sonderbegabten, aber zum eigenen Handeln und zur Selbstverantwortung unfähigen Schätzchen zu schaffen machen, um „es“ zu formen, auszubilden und für die neue Welt aufzubrezeln, was man heute „pimp-up“ oder „tuning“ nennt.

Diese Philosophie tritt erheblich stärker auf, seit nicht nur Studenten, sondern auch Hochschullehrer und Universitäten „Zeugnisse“ bekommen: als Ratings und Rankings von unterschiedlichsten Institutionen, die sich nach kruden Kriterien Urteile anmaßen (wollen). Denn: Früher bekam nur der Student ein Zeugnis, offenbar genau deshalb, weil gerade er eine Leistung erbracht hatte, die man ihm und nur ihm allein zurechnete. Seine Lehrer machten ihn selbständig denken, und er tat denken. Dafür bekam er sein Zeugnis, für sich allein. Neschle hat nämlich nie Zeugnisse von Studenten veröffentlicht gesehen. Das ist gut so und sollte so bleiben!

Heute wird der Professor jedoch öffentlich beurteilt, häufig sogar mehrfach nach Kriterien von Außenstehenden, die sich angeblich, aber nicht nachprüfbar (!), auf Urteile von Insidern stützen. Da geht es um die Frage: „Wie ‚gut‘ macht sie/er oder seine/ihre Universität die Ausbildung?“ Dabei ist die Bewertung im Internet sogar personalisiert: Professor XY wird entweder auf den Thron gehoben oder (meist viel genüsslicher) an den Pranger gestellt.

Fußballern und Fußballtrainern geht es da nicht anders. Aber da gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die erbringen auch ihre Leistung öffentlich. Diesen Unterschied vergisst man, wenn man eine „öffentliche Bewertung“ von Lehrern zulässt: Wer sich öffentlich beurteilen lassen muss, der sollte auch öffentlich beurteilbar sein, wie es z.B. bei Fußballspielern und ihren Leistungen in Ligaspielen ist. Jeder, der dieses Urteil liest, kann es auch persönlich überprüfen. Wer dagegen dem Blick der Öffentlichkeit entzogen ist, über den sollte man auch nicht öffentlich urteilen dürfen. Denn dann sind Betrug, Diffamierung und Mobbing Tür und Tor geöffnet.

Die öffentliche Beurteilung der Lehrer hat zudem einen Effekt im Bildungsbereich, den wir aus dem Fußball kennen. Sie verschiebt die Verantwortung für ein schlechtes Spiel von den Spielern auf den Trainer, obwohl der gar nicht mitspielt, sondern nur auf das Spiel vorbereitet. Damit verbunden sind im Bildungsbereich Versuche, den Spielern ihr Spiel zu erleichtern:

Statt ihnen zuzumuten, die 90 Minuten durchzuspielen, werden nun quasi sechs Spiele zu je zehn Minuten angesetzt. Dies lässt die Beteiligten vor Prüfungsstress kaum zur Ruhe kommen und die scheinbare Erleichterung erweist sich letztlich in dieser Hinsicht als Erschwerung: Sie verstärkt Stress und Prüfungsbelastung. Bevor man richtig ins Spiel gekommen ist, zeigt der Schiedsrichter zur Mittellinie. Und mitten im Training ruft der nächste Wettkampf in ultra-englischen Wochen.

B. Simulatoren des Wissens: Das Als-ob-Wissen hat Konjunktur

Aus Paniermehl einen Kuchen backen kann niemand. Genau das will aber unser noch immer recht frisch reformiertes Bildungssystem leisten. Derweil man sich schon neuen Bröseln zuwendet, lässt die Zerbröselung der Wissenspartikel und ihre bröckchenweise Abprüfung die gelernten Brösel mehr und mehr vertrocknen. Wer sich mit diesem panierten Wissen aufs Leben vorbereitet, bekommt dort garantiert nichts gebacken.

Das Zeugnis summiert heute all diese Brösel auf zu einer Summe von „Credit Points“, von denen ein „normal gewordenes“ Bachelor-Studium 180 verlangt. Diese Summierung unterstellt von Natur aus die Unabhängigkeit der Prüfungsbrösel und damit mangelnde Synergieeffekte: 1 + 1 sind zwar gleich 2, aber ein Kaninchen und ein Kaninchen sind nicht unbedingt zwei Kaninchen, wenn sie synergetisch zusammenwirken. Das gilt insbesondere auch für die gegenseitige Befruchtung von Wissensinhalten. Bildung geht wie ein gut gebackener Festtagskuchen und ist keine Dose voll Paniermehl, ohne Verbindung der Partikel und ohne Luft zur Entwicklung.

Ein einziger Paniermehlbrösel („Credit Point“) entspricht einer vermuteten (und erfolgreich investierten) Arbeitsleistung („workload“) von 30 Stunden. Nach exakt 5.400 Arbeitsstunden und zahlreichen eingestreuten Prüfungen wird man Bachelor. Verteilt über 6 Semester verlangt das 900 Arbeitsstunden pro Semester und bei einer unterstellten 40-Stunden-Woche 22,5 Wochen/Semester, also 45 Wochen/Jahr. Bei 52 Wochen im Jahr ergibt das etwa 7 Wochen Urlaub, etwa 35 Arbeitstage.

Das Ganze riecht extrem nach Arbeitnehmerrechten und Gewerkschaft. So scheint alles im Lot, vorausgesetzt man betrachtet den Studenten als abhängigen Arbeitnehmer,

– der für die Welt da draußen jeweils nach den gerade aktuellen Bedürfnissen und Standards aus-gebildet wird,

– der dafür ein eigens für ihn vorgefertigtes und strukturiertes Pensum bröckchenweise abarbeiten soll,

– der die einzelnen Werkstücke immer wieder – auch bei Unterbrechung sinnvoller Arbeitsabläufe – vorzeigen und absegnen lassen muss, aber sie dann vergessen kann,

– der dabei arbeitnehmerähnlicher Schutzrechte bedarf.

Folgt man dagegen der Alternative, sollte

– der Student in die Lage versetzt werden, sich selbst zu bilden und sich gerade nicht im passiven Status des Ausgebildetwerdens bewegen,

– um sich als selbständiger Unternehmer seiner Arbeitskraft lebenslang aktiv und kreativ einer veränderlichen Wissenslandschaft anpassen zu können.

Folgt man dieser Alternative, dann ist die in den arbeitnehmerartigen Vorgaben zum Ausdruck kommende Aus-Bildungsphilosophie ein Albtraum. Es ist Neschles „besonderer Vorzug“ diesen Albtraum hautnah erleben zu dürfen und festzustellen, dass die Bildungspolitiker, die hinter der passiven arbeitnehmerorientierten Ausbildungsphilosophie stehen, in diesem Traum nicht mehr vorkommen. Wie die Regisseure eines Horrorstreifens tauchen sie im Film selbst gar nicht auf. Es ist wie bei Meckie Messer: Die im Schatten sieht man nicht!

Doch eigentlich geht es in der heutigen Aus-Bildung eher zu wie in einer Doku-Soap:

– die Szenenwechsel sind häufig und abrupt,

– die Schauspieler müssen immer nur kurze Passagen lernen und

– selbst schlechte Mimen können sich recht gut verstecken.

Setzt man den Strich unter diese Rechnung, ist den Mimen immer gerade noch die letzte Szene in Erinnerung, für die sie kurz, intensiv und auswendig gelernt haben. Den Sinn des gesamten Stücks erkennen sie nicht. Er ist ihnen auch egal, denn schon wartet die nächste Episode. Das Zeitalter der Wissenssimulation ist eine Doku-Soap des Wissens.

C. Aus-Bildungsmuffel und Bildungsfreunde

Ausbildung heißt Aus-Bildung, weil es dann aus mit der Bildung ist, schreibt Neschle als Zitat an den Anfang und er erscheint damit als Ausbildungsverweigerer. Wie auch mit folgender Ansprache an Studierende:

„ Liebe Studierende, Sie treten nun in einen Lebensabschnitt ein, in dem Sie gefordert sind, etwas aus sich zu machen: als Unternehmer Ihrer Arbeitskraft. Erwarten Sie also nicht, dass ich Sie aus-bilde! Das kann ich auch gar nicht, wenn Sie das nicht aktiv wollen. Auf Dauer hilft wie in jeder Entwicklungspolitik (auch in der für Entwicklungsländer!) nämlich nur eine Hilfe zur Selbsthilfe anstelle von Überlebensgeschenken. Nur das wirkt „nachhaltig“!

Ich kann Ihnen nichts aneignen, Sie müssen das tun! Dann und nur dann ist es gerechtfertigt, dass Sie ein Zeugnis kriegen und nicht ich.

Mit passivem Zuhören allein besteht auch niemand eine Klausur. Darin müssen Sie Ihre Sprachlosigkeit überwinden und aktiv in der Sprache der Dozenten „sprechen“. Wollen Sie Ihre „Sprachkenntnisse“ später verbessern, reicht es nicht, die aktuellen Redensarten auswendig zu lernen. Dann müssen Sie den Charakter und die Regeln der Sprache verstehen. Genau daran fehlt es, wenn Sie „Wissen“ für eine Klausur auswendig lernen.

Deshalb müssen Sie sich aktiv bilden. Ich kann dabei, wie jeder Dozent, nur Katalysator sein und die Reaktion zwischen Ihnen und den Bildungsgütern in Gang bringen und sie nachhaltig wirken lassen. Aber das ist nicht dasselbe wie der Gedanke, dass Sie für mich untätiger Stoff sind, den ich in der Manier eines Bildhauers gestalte und ausbilde. Sie müssen sich schon selbst formen, ich kann das nicht für Sie. Nehmen sich dafür Zeilen aus einem Song von Yes (Owner of a Lonely Heart) zu Herzen:

Move yourself
You always live your life
Never thinking of the future
Prove yourself
You are the move you make
Take your chances win or loser
See yourself
You are the steps you take
You and you – and that’s the only way
Shake – shake yourself
You’re every move you make
So the story goes.”

Eine ähnliche Ansprache an Studierende hat Neschle eine Beschwerde eine Studenten bei der Hochschulleitung erbracht. Der Student beschwerte sich darüber, Neschle weigere sich, ihn auszubilden.

Das zeigt, wie der Gedanke, sich passiv ausbilden zu lassen statt sich aktiv zu bilden, sich in den Köpfen der Studierenden eingenistet hat. Wird dann noch für das Studium gezahlt, verstärkt sich dieser Wunsch nach Bedienung mit einem fertigen Produkt und die Vorstellung, man habe über die Bezahlung sogar das Recht an einem guten Abschluss erworben, das berichteten Kollegen von privaten Universitäten.

Neschle antwortete der Hochschulleitung damals lapidar, dass er bei Leuten, die sich in passiver Erwartung darauf freuen, ausgebildet zu werden, gar nicht ausbilden könne. Und zur Selbstbildung anleiten, sei ohne Mitwirkung der Studenten ohnehin unmöglich. Jeder, wirklich jeder Dozent sei dazu unfähig. Als Folge müsste man alle Dozenten entlassen. Dann ginge es zu wie bei Fußballtrainern, denen man nicht nur jede Unfähigkeit, sondern auch jede Untätigkeit ihrer Spieler zurechnet.

Nichts zeigt klarer die Problematik der Philosophie, die den arbeitnehmerorientierten Stundenplänen zugrundeliegt. Sie entzieht den Studierenden immer mehr ihre Selbstverantwortung und weist diese allein Professoren und Hochschule zu. Wer aber sein Schicksal selbst in die Hand nehmen soll, der muss etwas anders lernen!

Die „Workload“ ist dabei die größte Farce der Universitätsgeschichte, weil sie fast beliebig begründbar und gestaltbar ist und es erlaubt, Studiengänge mit völlig unterschiedlichen Präsenzstunden mit gleichwertigen Abschlüssen zu versehen. Doch das hat Neschle noch kürzlich gesagt (Leon Neschle 71).

Tu denken, mach denken, dann mach vielleicht sogar Denken

Ob wer was tut oder was macht,

das ist doch gleich, das ist dasselbe,

das hat sich mancher schon gedacht,

an Donau, Rhein und Elbe.

Beim Denken aber geht’s nicht gut,

mit dieser Gleichheit Pracht,

weil man selber denken tut,

doch andere denken macht.

Denken machen muss der Lehrer,

auch wenn er vorher denken tut,

nur derart findet er Verehrer

und gibt zum Denken and’ren Mut.

Ein Student muss aktiv bilden,

was ihn künftig fähig macht,

in allen Zeiten, auch in wilden,

zu schöpfen aus der Bildung Kraft.

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