Tag der Deutschen Vielfalt
Am Tag der Einheit vergeblich gesucht: der Einheitsdeutsche. Also:
Wir müssen ihn erfinden: den Tag der Deutschen Vielfalt. Sonst droht uns der einfältige Einheitsdeutsche. Denn mit dem Tag der Deutschen Einheit geht es nach der deutschen Politik und Presse darum, Deutschland und die Deutschen einheitlich oder zumindest einheitlicher zu machen.
Deutsche in Ost und West, so hieß es im Radio am Morgen des Tages der Deutschen Einheit, hätten auch nach mehr als zwanzig Jahren noch(!!!) immer nicht zu einer einheitlichen Kommunikation gefunden. Weder die Körpersprache (angeblich gehen Ostler näher ran und schauen oder glotzen[?] einem direkter ins Gesicht als Westler) noch der inhaltliche Gebrauch von Sprache stimmten schon überein, so dass es allein deshalb immer noch zu Missverständnissen komme. Nicht gut, solche Missverständnisse zwischen Ost und West, wird da gesendet!
Oh, versteht da der aufmerksame Hörer. Dann scheint es ja mit der Integration der Ossis durch die Wessis und der Integration der Wessis durch die Ossis noch nicht so weit her zu sein, wenn sie nicht einmal dieselbe Kommunikation pflegen, wenn sie in anderen Zungen reden. Die noch(!) vorhandene Kommunikationsvielfalt wird als Zeichen dafür gedeutet, wie schlecht die deutsche Einheit immer noch funktioniert. –
Neschle kommt gerade erst aus Frankreich zurück und musste feststellen: Auch dort gibt es weder Gleichheit der Kommunikation zwischen unterschiedlichen Regionen noch Gleichheit der Lebensverhältnisse. Dasselbe hat er erfahren in Italien (Nord und Süd), Großbritannien (England, Schottland, Wales, Nordirland) oder Spanien (Kastilien, Katalonien, Baskenland).
Und was am Tag der deutschen Einheit nur zwischen Ost und West als Kommunikationsproblem gelten soll, gilt ja vielleicht noch stärker zwischen Ruhrgebiet und Baden-Württemberg. Da liegen, Wende hin, Wende her, zwischen einem Gelsenkirchener und einem Ulmer meist tiefere Kommunikationsgräben als zwischen einem Braunschweiger und einem Magdeburger. Trotzdem gibt es zum Einheitstag nur den Einheitsbrei der Ost-West-Debatte. –
Was soll die „nachhaltige“ Konfrontation zwischen Ost und West? Die Qualität der Deutschen Einheit erkennt man doch nicht daran, ob es bald nur noch den Ost-West-Einheitsdeutschen gibt oder nicht. Einheit bemisst sich allein am gegenseitigen Respekt und dem Gefühl, trotz aller Vielfalt „irgendwie“ zu einem Volk zu gehören.
Was also soll der ost-westspezifische Blick auf „immer noch vorhandene“ Unterschiede, die es im Sinne der Einheit zu beseitigen gilt? Ist es wirklich Zeichen der deutschen Einheit, dass die Unterschiede verschwinden und sich die mit dem Tag der „Deutschen Einheit“ geforderte Tendenz zum auf-„rechten“ und einfältigen Einheitsdeutschen fortsetzt? Oder ist es eher Zeichen der Einheit, dass man sich auch bei Weiterbestehen der Unterschiede zu einem gemeinsamen Volk zugehörig fühlt?
Wenn Letzteres der Fall ist, sollte man dem Tag der „Deutschen Einheit“ vielleicht zeitgleich den Tag der „Deutschen Vielfalt“ entgegensetzen? Der würde auch von der Bevölkerung viel besser aufgenommen als ein (bl)öder Einheitstag, der als „Einheiztag“ auch noch genau an den Beginn der Heizperiode gelegt wurde. Für einen bunten „Tag der Deutschen Vielfalt“ würden sicher viel mehr Leute mit Überzeugung auf die Straße gehen als zum Einheitstag, sogar mehr als zum Christopher Streetday.
Deutschland ist unbemerkt von der Politik längst ein Land der Zuwanderer geworden, egal ob sie vom Osten, aus der Türkei oder sonst woher kommen. Deutscher (Engländer, Franzose, Italiener, … und Amerikaner sowieso) ist ohnehin jeder, der sich so fühlt, fühlen will oder, im übleren Fall, dieses Fühlen auch nur vorgibt und sich deshalb einen deutschen Pass besorgt. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als im Sport.
Wenn es sogar Männer gibt, die sich als Frauen empfinden, und Frauen, die sich als Männer erleben, warum soll es dann nicht Deutsche geben, die sich irgendwann als Amerikaner oder Franzosen fühlen, weil sie sich in dieser Kultur assimiliert haben, weil sie in der neuen Sprache und Tradition leben, denken und träumen. Das was für diese Deutschen gilt, kann doch wohl ebenso für Russen oder Türken in Deutschland gelten. Deutscher ist heute also derjenige, der aus eigenem Willen und hoffentlich aus eigener Überzeugung einen deutschen Pass beantragt hat und bewilligt bekam.
Das wahre Kompliment an die deutsche Kultur und Tradition ist nicht die nazistische oder narzisstische „deutsche Einheit“ und germanische Selbstverliebtheit verirrter Rechtsradikaler, sondern das offene Bekenntnis vielfältiger Ethnien zum „Deutschsein“. Das wahre Kompliment an die deutsche Kultur ist, wenn sich jemand trotz aller Vielfalt und aller Unterschiede zu dieser deutschen Kultur bekennt und sich ihr zugehörig fühlt. Da ist es durchaus ein Zeichen, wenn die Muslime ihren „Tag der offenen Moschee“ als Symbol der Vielfalt in Deutschland, wenn nicht sogar als Symbol neuer deutscher Vielfalt, ausgerechnet auf den Tag der Deutschen Einheit legen. – …
Neschle, Du bist ein Träumer. Missbrauch, Missbrauch, Missbrauch!!! Was Du, lieber Neschle, als Kompliment für die deutsche Kultur ansiehst, ist in Wahrheit nur ein Bekenntnis zum deutschen Sozialsystem, zur Rundum-Versorgung von Wirtschaftsflüchtlingen: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing!.–
Oh, Du mein einfältiger Kritiker, vergiss es aber bitte nicht,
1. dass auch dieses Sozialsystem ein Teil der deutschen Kultur ist und das Bekenntnis dazu uns durchaus schmeichelt, und
2. dass dieser Missbrauch nicht nur von „Bekenntnisdeutschen“, sondern auch von echten „Geburtsdeutschen“ betrieben wird, auch von solchen mit Springerstiefeln, und
3. dass es, um Missbrauch zu verhindern, schon deshalb andere Mittel braucht als Zuwanderer davon auszuschließen und
4. dass wir durch Arbeitsverbote für Zuwanderer selbst zu dessen Gebrauch anreizen, einen Gebrauch, den man dann nur noch schwerlich und mit Selbstwiderspruch „Missbrauch“ nennen kann, und
5. dass solche Zuwanderer mit ihrer Entscheidung für das Deutschsein auch die (Steuer- und sonstige) Pflichten von Deutschen übernehmen, und
6. dass es so etwas wie „Deutschland“ noch gar nicht so lange gibt und dieses Land früher viel mehr Vielfalt zeigte etwa als das zentralisierte Frankreich (Neschles Vorfahren waren sich auch gar nicht so sicher, ob sie Deutsche waren oder Holländer. Die Engländer nennen die Niederländer noch heute „the Dutch“. Was aber ist das anderes als „die Deutschen“?), und
7. dass gerade die meisten „Deutschen“ hier in der Mitte Europas schon seit Generationen genetisch alle möglichen Nationalitäten in sich vereinigen (Der Österreicher Hitler, der in Braunschweig zum „Deutschen“ konvertiert ist, konnte sich selbst jedenfalls wohl kaum als „Vorzeigedeutscher“ empfinden) und …, und …, und …
Also: Wie wäre es nun mit einem „Tag der Deutschen Vielfalt“? Neschle freut sich drauf und macht mit!
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